Die Bücher und das Paradies
zu beenden.
Doch offenbar hatte ich die zweite Hälfte in jenen ersten
fünf Jahren so intensiv bedacht, daß alles schon
wohlgeordnet in meinem Kopf (oder Herz oder Bauch,
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was weiß ich) bereitlag. Kurz gesagt, zwischen Mitte Juni
und den ersten Augusttagen hat sich das Buch fast von
selber zu Ende geschrieben, in einem einzigen Zug
(danach gab es noch ein paar Monate mit Kontrollen und
Korrekturen, aber im Kern war es fertig, die Geschichte
war zu Ende). An diesem Punkt brach ein weiteres meiner
Prinzipien zusammen, denn auch ein Aberglaube ist ein
Prinzip, so irrational er sein mag: Ich hatte das Buch nicht
am 5. Januar beendet.
Irdgendwas stimmte nicht, dachte ich ein paar Tage lang.
Dann, am 8. August, wurde mein erster Enkel geboren.
Mit einem Schlag war mir alles klar, diesmal sollte ich den
Roman nicht an meinem Geburtstag beenden, sondern an
seinem . Ich widmete ihm mein Buch und war wieder
beruhigt.
Computer und Schreiben
Wie hat der Gebrauch des Computers mein Schreiben
beeinflußt? Sehr stark im Hinblick auf meine Erfahrung,
und ich weiß nicht, wie stark im Hinblick auf die
Ergebnisse.
Nebenbei: Da im Pendel von einem Computer die Rede
ist, der Poesie fabriziert und Ereignisse aleatorisch
kombiniert, wollten viele Interviewer um jeden Preis von
mir hören, daß der ganze Roman am Computer entstanden
sei, indem ich ihm ein Programm eingefüttert hätte, mit
dem er dann alles ganz von allein habe erfinden können.
Wohlgemerkt, es waren lauter Journalisten, die ihre
Artikel inzwischen am Computer schrieben, von wo sie
direkt zum Druck gingen – sie wußten also, was man von
diesem dienstbaren Apparat erwarten konnte. Aber sie
wußten auch, wie man für ein Publikum schreibt, das noch
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eine magische Vorstellung vom Computer hatte, und
bekanntlich schreibt man ja häufig nicht, um den Lesern
die Wahrheit zu sagen, sondern das, was sie gerne hören.
Jedenfalls geriet ich an einem bestimmten Punkt in Rage
und offenbarte einem von ihnen die magische Formel:
Erstens braucht man selbstredend einen Computer, der eine
intelligente Maschine ist, die für einen denkt – was für viele vorteilhaft wäre. Es genügt ein Programm von wenigen Zeilen, das auch ein Kind schreiben kann. Dann füttert man den Computer mit dem Inhalt einiger hundert Romane, wissenschaftlicher Werke, der Bibel und des Korans sowie etlicher Telefonbücher (sehr nützlich für die Namen der handelnden Personen). Sagen wir rund hundertzwanzigtausend Seiten. Danach randomisiert man das Ganze mit
einem anderen Programm, d. h. man verquirlt alle diese Texte
miteinander unter Beigabe eines Zusatzbefehls, zum Beispiel der Eliminierung sämtlicher Buchstaben a . So erhält man außer einem Roman auch noch ein Lipogramm. Nun gibt man den Befehl Print , und das Ganze wird ausgedruckt. Da man alle a eliminiert hat, kommen etwas weniger als hundertzwanzigtausend Seiten heraus.
Nachdem man sie mehrmals sorgfältig gelesen und die wichtigsten Stellen unterstrichen hat, lädt man sie auf einen Lkw und fährt sie zu einer Müllverbrennungsanlage. Dann setzt man sich mit einem Kohlestift und Fabrianopapier unter einen Baum, läßt die
Gedanken schweifen und schreibt zwei Zeilen, zum Beispiel: »Der Mond steht hoch am Himmel / der Wald raschelt und rauscht.«
Vielleicht kommt noch nicht gleich ein Roman heraus, sondern
bloß ein japanisches Haiku, aber das Entscheidende ist, einmal angefangen zu haben.
Niemand hatte den Mut, mein Geheimrezept
abzudrucken. Aber jemand schrieb: »Man spürt, daß der
Roman direkt am Computer geschrieben wurde;
abgesehen von der Szene mit der Trompete auf dem
Friedhof: Die ist wirklich erlitten, er muß sie mehrmals
geschrieben haben, und zwar mit der Hand.« Ich schäme
mich, es zu sagen, aber bei diesem Roman, der so viele
Schreibphasen durchgemacht hat, bei denen der Kuli, der
Bleistift, der Füllfederhalter und zahllose Revisionen ins
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Spiel gekommen waren, ist das einzige Kapitel, das direkt am Computer geschrieben wurde, in einem Zug und ohne
viele Korrekturen, genau das mit der Trompete gewesen.
Der Grund ist sehr einfach: Ich hatte diese Geschichte so
gegenwärtig, hatte sie mir und anderen so oft erzählt, daß
es war, als ob ich sie längst geschrieben hätte. Ich brauchte
nichts mehr zu ändern oder hinzuzufügen, ich bewegte die
Hände über die Tastatur wie über die Tasten eines
Klaviers, auf dem ich eine Melodie spielte, die ich
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