Die Bücher und das Paradies
Abänderungen,
Streichungen, Neuansätzen), dann gibt es keine gleich-
bleibende Art und Weise, einen Roman zu schreiben.
Jedenfalls nicht für mich. Ich weiß von Autoren, die
morgens um acht aufstehen, sich von halb neun bis zwölf
an die Maschine setzen ( nulla dies sine linea )und dann aufhören, um bis abends spazierenzugehen. Ich gehöre
nicht dazu. Vor allem kommt, wenn man einen Roman
schreiben will, der Akt des Schreibens erst später. Zuerst
wird gelesen, man macht sich Auszüge, zeichnet Porträts
von Personen, Karten von Orten und Muster von
Zeitsequenzen. Und diese Dinge macht man mit Stift oder
Füller oder am Computer, je nachdem, wann und wo man
sich gerade befindet, welche Art von erzählerischer Idee
oder Faktum man sich notieren will: auf der Rückseite des
Fahrscheins, wenn man gerade im Zug sitzt, in einer
Kladde, auf einer Karteikarte, mit dem Kuli, mit dem
Diktiergerät, wenn es sein muß mit Brombeersaft.
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Dann kommt es vor, daß ich etwas wegwerfe, zerreiße,
zerknülle, irgendwo vergesse, aber ich habe Schachteln
voller Hefte, Notizblöcke mit Seiten in verschiedenen
Farben, mit Kärtchen, sogar mit Kanzleibögen. Und diese
ungeordnete Vielfalt von Schreibmaterial ist mir eine
Gedächtnishilfe, denn ich erinnere mich zum Beispiel, daß
ich mir eine bestimmte Notiz auf dem Briefpapier eines
Hotels in London gemacht hatte und daß ich den Anfang
eines bestimmten Kapitels in meinem Arbeitszimmer auf
einer blaßblau liniierten Karteikarte skizziert hatte, und
zwar mit dem Montblanc-Füller, während der erste
Entwurf des folgenden Kapitels auf dem Land entstanden
war, auf der Rückseite eines wiederverwendeten Einkaufs-
zettels.
Ich habe keine Methode, keine festen Tage, Stunden,
Jahreszeiten. Aber vom zweiten bis zum dritten Roman
hatte ich eine Gewohnheit entwickelt. Ich sammelte Ideen,
machte mir Notizen, schrieb provisorische Fassungen, wo
immer es mir gerade unterkam, aber dann, wenn ich
wenigstens eine Woche in meinem Haus auf dem Land
verbringen konnte, schrieb ich die Kapitel dort am
Computer. Bevor ich wieder abreisen mußte, druckte ich
sie aus, korrigierte sie und ließ sie dann in einer Schublade
liegen, bis ich das nächste Mal aufs Land kam. Die
Schlußfassungen meiner drei ersten Romane habe ich dort
geschrieben, gewöhnlich in den zwei bis drei Wochen der
Weihnachtsferien. Deshalb hatte ich angefangen, einen
Aberglauben zu kultivieren (ich, der am wenigsten
abergläubische Mensch der Welt – ich gehe unter Leitern
hindurch, grüße freundlich alle schwarzen Katzen, die mir
über den Weg laufen, und lege, um die abergläubischen
Studenten zu bestrafen, meine Prüfungstermine immer auf
Dienstage oder Freitage, solange sie nur dreizehnte oder
siebzehnte sind): Die so gut wie endgültige Fassung, bis
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auf kleinere Korrekturen, mußte am 5. Januar, meinem
Geburtstag, fertig sein. Wenn ich es nicht schaffte, wartete
ich bis zum nächsten Jahr (und einmal, als ich schon im
November fast fertig war, ließ ich alles andere liegen, um
das Ziel bis Januar zu erreichen).
Auch hier war Baudolino die Ausnahme. Oder anders
gesagt, er war im selben Rhythmus geschrieben worden,
immer auf dem Lande, aber gegen Ende der ersten Hälfte,
in den Weihnachtsferien 1999 – 2000, war ich ins Stocken
geraten. Zuerst dachte ich, es läge an dem damals
vielbeschrienen Millenium Bug . Es war das Kapitel über den Tod von Barbarossa, und was darin geschehen würde,
war bestimmend für die Schlußkapitel und für die ganze
Art, wie ich die Reise zum Reich des Priesters Johannes
erzählen würde. Einige Monate war ich völlig blockiert,
ich wußte beim besten Willen nicht, wie ich diese
Schwelle überwinden oder diese Klippe umschiffen sollte.
Ich verdrängte das Problem und ließ mir die (noch zu
schreibenden) Kapitel durch den Kopf gehen, auf die ich
mich schon von Anfang an gefreut hatte: die Begegnung
mit den Monstern und vor allem die Begegnung mit
Hypatia. Ich träumte davon, diese Kapitel schreiben zu
können, aber ich wollte es nicht tun, solange ich das
Problem nicht gelöst hatte, das mir zu einer Obsession
geworden war.
Im Sommer 2000, wieder auf dem Lande, gelang es mir
dann Mitte Juni, »die Klippe zu umschiffen«. 1995 hatte
ich angefangen, an den Roman zu denken, ich hatte fünf
Jahre gebraucht, um bis zur Mitte zu gelangen, also würde
ich –
sagte ich mir
– nun noch weitere fünf Jahre
brauchen, um ihn
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