Die Bücher und das Paradies
was ich anderswo die Intention des Textes genannt
habe.
Einerseits scheint uns die Welt ein »geschlossenes«
Buch zu sein, das nur eine Lesart zuläßt, denn wenn es ein
Gesetz gibt, das die Gravitation der Planeten regiert, dann
ist es entweder das richtige oder das falsche Gesetz, und
verglichen damit erscheint uns das Universum eines
Buches als eine offene Welt. Aber versuchen wir einmal,
uns einem narrativen Werk mit gesundem Menschen-
verstand zu nähern, und vergleichen wir die Aussagen, die
wir darüber machen können, mit denen, die wir über die
Welt machen können. Über die reale Welt sagen wir, daß
die Gesetze der universalen Gravitation diejenigen sind,
die Isaac Newton formuliert hat, oder daß es wahr ist, daß
Napoleon am 5. Mai 1821 auf Sankt Helena gestorben ist.
Und doch werden wir, wenn wir einigermaßen auf-
geschlossen sind, immer bereit sein, unsere Überzeu-
gungen zu revidieren, sobald die Wissenschaft eine neue
Formulierung der großen Gesetze des Kosmos vorlegt
oder ein Historiker neue Dokumente findet, die beweisen,
daß Napoleon bei einem Fluchtversuch auf einem
bonapartistischen Schiff gestorben ist. In der Welt der
Bücher dagegen werden Aussagen wie »Sherlock Holmes
war Junggeselle« oder »Rotkäppchen wird vom Wolf
verschlungen und dann vom Jäger gerettet« oder »Anna
Karenina wirft sich vor einen Zug« in alle Ewigkeit immer
wahr bleiben und von niemandem widerlegt werden
können. Es gibt Leute, die verneinen, daß Jesus Gottes
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Sohn war, und solche, die sogar seine historische Existenz
bezweifeln, während andere beteuern, daß er der Weg, die
Wahrheit und das Leben sei und wieder andere glauben,
daß der Messias erst noch kommen werde, und was immer
wir darüber denken, wir behandeln sie alle mit Respekt.
Aber niemand wird jemanden mit Respekt behandeln, der
behauptet, Hamlet habe Ophelia geheiratet oder Superman
sei nicht Clark Kent.
Literarische Texte sagen uns nicht bloß ausdrücklich,
was wir nie mehr in Zweifel ziehen können, sondern sie
bedeuten uns auch im Unterschied zur realen Welt mit
souveräner Autorität, was in ihnen als relevant zu gelten hat und was wir nicht zum Ausgangspunkt freier
Interpretationen nehmen können.
Am Ende des 65. Kapitels von Rot und Schwarz erfahren wir, daß Julien Sorel in die Kirche geht und auf Madame
de Rénal schießt. Nachdem Stendhal betont hat, daß
Juliens Arm stark zitterte, berichtet er, daß sein Held einen
ersten Schuß abgibt, der das Opfer verfehlt, und danach
einen zweiten, der die Dame zu Boden streckt. Stellen wir
uns nun vor, wir wollten behaupten, der zitternde Arm und
der Umstand, daß der erste Schuß danebenging, bewiesen,
daß Julien nicht in der festen Absicht zu töten, sondern
getrieben von einer plötzlichen rasenden Leidenschaft in
die Kirche gestürmt sei. Dieser Interpretation ließe sich
eine andere entgegensetzen, nach der Julien zwar von
Anfang an habe töten wollen, aber ein Feigling war. Der
Text erlaubt beide Interpretationen.
Nun will es der Zufall, daß sich jemand gefragt hat, wo
eigentlich die erste Kugel geblieben ist. Eine interessante
Frage für Stendhal-Fans. So wie Joyce-Fans nach Dublin
pilgern, um dort unter anderem nach der Apotheke zu
suchen, in der Leopold Bloom ein zitronenförmiges Stück
Seife gekauft haben soll (und um diese Pilger zu
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befriedigen, hat jene Apotheke, die es tatsächlich gibt, sich
darauf verlegt, diese Seifenstücke erneut zu produzieren),
so könnte man sich Stendhal-Jünger vorstellen, die ver-
suchen, in unserer realen Welt das Städtchen Verrières
und dessen Kirche zu finden, um dort jede Säule nach dem
Loch abzusuchen, das jene erste Kugel gemacht haben
müßte. Das wäre ein amüsanter Fall von fanship . Nehmen wir aber nun an, ein Kritiker wollte seine ganze Interpretation des Romans auf den Verbleib jener verlorenen
Kugel gründen. In unseren heutigen Zeiten wäre das nicht
ganz unvorstellbar, bedenkt man, daß es jemanden
gegeben hat, der seine ganze Deutung des Entwendeten
Briefes von Poe auf die Position des Briefes über dem
Kamin gegründet hatte. Doch während Poe die Position
jenes Briefes explizit angibt und somit relevant gemacht hat, sagt Stendhal implizit, daß über jene erste Kugel
nichts weiter bekannt ist, womit er sie sogar aus dem Kreis
der fiktiven Entitäten ausschließt. Hält man sich treu an
den Text, so ist jene Kugel definitiv verloren, und die
Frage,
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