Die Bücher und das Paradies
wo sie geblieben sein mag, ist für die Erzählung
irrelevant. Dagegen treibt in Armance das Nichtgesagte über die mögliche Impotenz des Helden den Leser zu
wilden Hypothesen, mit denen er sich ergänzt, was die
Erzählung ungesagt läßt, und in den Promessi Sposi läßt ein Satz wie »la sventurata rispose«3 offen, wie weit
Gertrude in ihrer Sünde mit Egidio gegangen ist, aber die
düstere Aura der Vermutungen, die dem Leser dadurch
3 »Die Unglückselige antwortete«: Anspielung auf die berühmte und vielkommentierte Stelle in Alessandro Manzonis jedem italienischen Schulkind bekannten (wenn auch eben deshalb verhaßten) Roman, in der die künftigen Untaten der Nonne von Monza gerade durch ihr Verschweigen um so schlimmer erscheinen, vgl.
A. Manzoni, Die Brautleute , Hanser 2000, Kap. 10, S. 236, und Anm. S. 878 (A. d. Ü.).
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nahegelegt werden, ist Teil der Faszination dieser so
schamhaft elliptischen Seite.
Am Anfang der Drei Musketiere lesen wir, daß
d’Artagnan am ersten Montag des Monats April 1625 auf
einem vierzehn Jahre alten Klepper in Meung ankam. Wer
ein geeignetes Programm in seinem Computer hat, kann
rasch feststellen, daß jener Montag der 7. April gewesen
sein muß. Ein Leckerbissen für trivia games unter Dumas-Fans. Kann man nun aber auf dieses Datum eine Meta-
Interpretation des Romans gründen? Ich denke nicht, denn
der Text mißt diesem Datum keine weitere Bedeutung bei,
er macht es nicht relevant. Der weitere Verlauf des
Romans macht nicht einmal relevant, daß d’Artagnan an
einem Montag eingetroffen ist – während der Umstand,
daß es April war, durchaus Relevanz hat (erinnern wir uns:
um zu verbergen, daß sein prächtiges Wehrgehänge nur
vorn bestickt war, trug Porthos einen langen karmesin-
roten Samtmantel, den die Jahreszeit nicht rechtfertigte, so
daß der Musketier eine Erkältung vortäuschen mußte).
Solche Dinge mögen für viele von uns Selbstverständ-
lichkeiten sein, aber an diesen Selbstverständlichkeiten
(die oft übersehen werden) wird deutlich: Die Welt der
Literatur hat es an sich, uns darauf vertrauen zu lassen,
daß es in ihr eine Reihe von unanfechtbaren, nicht in
Zweifel zu ziehenden Aussagen gibt, mit anderen Worten,
daß sie uns ein – wie immer auch imaginäres – Modell der
Wahrheit vorsetzt. Und diese literarische Wahrheit strahlt
auch auf jene aus, die wir die hermeneutischen Wahr-
heiten nennen: Würde jemand behaupten, d’Artagnan
werde von einer homosexuellen Leidenschaft für Porthos
getrieben, oder der Ungenannte bei Manzoni sei durch
einen tief sitzenden Ödipuskomplex zum Bösen verleitet
worden, oder die Nonne von Monza sei – wie gewisse
Politiker heute insinuieren könnten – vom Kommunismus
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verdorben worden, oder Panurge tue das, was er tut, aus
Abscheu gegen den aufkommenden Kapitalismus, so
könnten wir jedesmal entgegnen, daß in den betreffenden
Texten keinerlei Aussage oder Andeutung oder Insinua-
tion zu finden ist, die uns zu derlei interpretatorischen
Abwegigkeiten ermächtigt. Die Welt der Literatur ist ein
Universum, in dem man Tests machen kann, um
festzustellen, ob ein Leser noch Sinn für die Realität hat
oder bereits seinen Halluzinationen zum Opfer gefallen ist.
Literarische Figuren wandern. Wir können wahre Aus-
sagen über sie machen, weil das, was ihnen widerfährt, in
einem Text aufgezeichnet worden ist, und ein Text ist wie
eine musikalische Partitur. Daß Anna Karenina Selbst-
mord begeht, ist ebenso wahr wie daß Beethovens Fünfte
in c-moll steht (und nicht in F-Dur wie die Sechste) und
daß sie mit g-g-g-es anfängt. Manchen literarischen
Figuren – nicht allen – passiert es jedoch, daß sie aus dem
Text, in dem sie geboren sind, heraustreten, um in eine
Region des Universums zu wandern, die sich schwer
eingrenzen läßt. Wenn sie Glück haben, wandern sie von
Text zu Text, und wenn sie das nicht tun, liegt es nicht
daran, daß sie von anderer Wesensart wären als ihre
glücklicheren Geschwister; sie haben nur einfach kein
Glück gehabt, und wir haben uns nicht mehr mit ihnen
beschäftigt.
Von Text zu Text gewandert (und durch Anpassung an
verschiedene Substanzen von Buch zu Film oder auch zu
Ballett oder von mündlicher Überlieferung in geschriebene
Texte) sind sowohl Personen der Mythologie als auch
solche der »weltlichen« Erzählliteratur wie Odysseus/
Ulysses, Jason, Artus, Parzival, Alice, Pinocchio,
d’Artagnan usw. Wenn
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