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Die Bücher und das Paradies

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Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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wir nun von solchen Personen
    sprechen, beziehen wir uns dann auf eine bestimmte
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    »Partitur«? Nehmen wir den Fall Rotkäppchen. Die beiden
    berühmtesten Partituren, die von Perrault und die der
    Brüder Grimm, unterscheiden sich beträchtlich. In der
    ersten wird Rotkäppchen vom bösen Wolf verschlungen,
    und damit endet die Geschichte, so daß sie uns zu ernsten
    moralischen Reflexionen über die Gefahren der
    Unvorsichtigkeit anregt. In der zweiten kommt der Jäger,
    tötet den Wolf und holt Rotkäppchen samt Großmutter ins
    Leben zurück. Happy-End.
    Stellen wir uns nun eine Mutter vor, die ihren Kindern
    das Märchen erzählt und an der Stelle aufhört, wo der
    Wolf Rotkäppchen verschlungen hat. Die Kinder würden
    protestieren und nach der »wahren« Geschichte verlangen,
    in der Rotkäppchen wiederaufersteht, und es würde wenig
    nützen, wenn die Mutter sich zur streng texttreuen
    Philologin erklärte. Die Kinder kennen eine »wahre«
    Geschichte, in der Rotkäppchen wirklich wiederaufersteht,
    und diese Geschichte steht der Grimmschen Version näher
    als der von Perrault. Aber sie fällt nicht mit dem Text der
    Grimms zusammen, denn sie läßt eine Reihe neben-
    sächlicher Fakten beiseite, in denen auch die Grimms und
    Perrault voneinander abweichen, wie zum Beispiel die
    Frage, welche Art von Geschenken Rotkäppchen der
    Großmutter bringt, ein Detail, über das die Kinder
    durchaus mit sich handeln lassen, denn sie berufen sich
    auf ein viel schematischer gezeichnetes Individuum, das in
    der Tradition fluktuiert und sich in verschiedenen
    Partituren niedergeschlagen hat, von denen viele mündlich
    sind.
    So werden Rotkäppchen, d’Artagnan, Ulysses oder
    Madame Bovary zu Individuen, die außerhalb ihrer
    Originalpartituren leben und über die auch solche Per-
    sonen, die nie den Urtext gelesen haben, wahre Aussagen
    machen können. Noch bevor ich König Ödipus gelesen
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    hatte, war mir schon bekannt gewesen, daß Ödipus Jokaste
    heiratet. Doch wie fluktuierend diese Individuen immer
    auch sein mögen, sie sind nicht völlig undefinierbar. Wer
    behaupten würde, daß Madame Bovary sich am Ende mit
    Charles versöhnt und glücklich mit ihm weiterlebt, würde
    auf die Mißbilligung aller mit gesundem Menschen-
    verstand begabten Flaubert-Leser stoßen, als hätten sie
    sich gemeinsam über Emmas Person verständigt.
    In welcher Region leben nun diese fluktuierenden
    Individuen? Es hängt vom Format unserer Ontologie ab,
    ob darin auch die Quadratwurzeln, die etruskische Sprache
    und die zwei Vorstellungen von der Heiligen
    Dreifaltigkeit Platz finden – ich meine die römische, nach
    welcher der Heilige Geist vom Vater und vom Sohn
    ausgeht ( ex Patre Filioque procedit ), und die byzanti-
    nische, nach welcher der Geist allein vom Vater ausgeht.
    Aber diese Region hat ein recht unbestimmtes Statut und
    beherbergt Entitäten von unterschiedlichster Konsistenz,
    denn auch der Patriarch von Konstantinopel (der stets
    bereit ist, sich mit dem Papst über das filioque zu streiten) würde dem Papst darin zustimmen (hoffe ich jedenfalls),
    daß es wahr ist, daß Sherlock Holmes in der Baker Street
    wohnte und Clark Kent dieselbe Person wie Superman ist.
    Nun steht jedoch in unzähligen Romanen oder Poemen
    geschrieben, daß – ich erfinde Beispiele aufs Geratewohl –
    Hasdrubal Corinna umbringt oder Theophrast Theodolinda
    wahnsinnig liebt, und trotzdem glaubt niemand, daß man
    wahre Aussagen über sie machen könnte, denn es handelt
    sich um glücklose oder schlecht gezeichnete Figuren, die
    weder gewandert noch in die kollektive Erinnerung
    eingegangen sind. Warum ist es in dieser Welt wahrer, daß
    Hamlet Ophelia nicht heiratet, als daß Theophrast
    Theodolinda geehelicht hat? Wie groß ist der Teil dieser
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    Welt, in der Hamlet und Ophelia leben und nicht der
    unglückliche Theophrast?
    Manche Figuren sind in gewisser Weise kollektiv wahr
    geworden, weil die Lesergemeinde im Lauf der Jahre oder
    Jahrhunderte Leidenschaften in sie investiert hat. Wir
    investieren individuelle Leidenschaften in vielerlei
    Phantasien, die wir im Wachen oder im Halbschlaf
    entwickeln. Wir können richtig gerührt sein, wenn wir an
    den Tod einer geliebten Figur denken, oder uns physisch
    erregen bei der Vorstellung, wir hätten mit ihr eine
    erotische Beziehung, und in gleicher Weise, durch
    Identifikations- oder Projektionsprozesse, können wir
    erschüttert sein über das Los der Emma Bovary oder uns,
    wie es

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