Die Bücher und das Paradies
wir nun von solchen Personen
sprechen, beziehen wir uns dann auf eine bestimmte
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»Partitur«? Nehmen wir den Fall Rotkäppchen. Die beiden
berühmtesten Partituren, die von Perrault und die der
Brüder Grimm, unterscheiden sich beträchtlich. In der
ersten wird Rotkäppchen vom bösen Wolf verschlungen,
und damit endet die Geschichte, so daß sie uns zu ernsten
moralischen Reflexionen über die Gefahren der
Unvorsichtigkeit anregt. In der zweiten kommt der Jäger,
tötet den Wolf und holt Rotkäppchen samt Großmutter ins
Leben zurück. Happy-End.
Stellen wir uns nun eine Mutter vor, die ihren Kindern
das Märchen erzählt und an der Stelle aufhört, wo der
Wolf Rotkäppchen verschlungen hat. Die Kinder würden
protestieren und nach der »wahren« Geschichte verlangen,
in der Rotkäppchen wiederaufersteht, und es würde wenig
nützen, wenn die Mutter sich zur streng texttreuen
Philologin erklärte. Die Kinder kennen eine »wahre«
Geschichte, in der Rotkäppchen wirklich wiederaufersteht,
und diese Geschichte steht der Grimmschen Version näher
als der von Perrault. Aber sie fällt nicht mit dem Text der
Grimms zusammen, denn sie läßt eine Reihe neben-
sächlicher Fakten beiseite, in denen auch die Grimms und
Perrault voneinander abweichen, wie zum Beispiel die
Frage, welche Art von Geschenken Rotkäppchen der
Großmutter bringt, ein Detail, über das die Kinder
durchaus mit sich handeln lassen, denn sie berufen sich
auf ein viel schematischer gezeichnetes Individuum, das in
der Tradition fluktuiert und sich in verschiedenen
Partituren niedergeschlagen hat, von denen viele mündlich
sind.
So werden Rotkäppchen, d’Artagnan, Ulysses oder
Madame Bovary zu Individuen, die außerhalb ihrer
Originalpartituren leben und über die auch solche Per-
sonen, die nie den Urtext gelesen haben, wahre Aussagen
machen können. Noch bevor ich König Ödipus gelesen
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hatte, war mir schon bekannt gewesen, daß Ödipus Jokaste
heiratet. Doch wie fluktuierend diese Individuen immer
auch sein mögen, sie sind nicht völlig undefinierbar. Wer
behaupten würde, daß Madame Bovary sich am Ende mit
Charles versöhnt und glücklich mit ihm weiterlebt, würde
auf die Mißbilligung aller mit gesundem Menschen-
verstand begabten Flaubert-Leser stoßen, als hätten sie
sich gemeinsam über Emmas Person verständigt.
In welcher Region leben nun diese fluktuierenden
Individuen? Es hängt vom Format unserer Ontologie ab,
ob darin auch die Quadratwurzeln, die etruskische Sprache
und die zwei Vorstellungen von der Heiligen
Dreifaltigkeit Platz finden – ich meine die römische, nach
welcher der Heilige Geist vom Vater und vom Sohn
ausgeht ( ex Patre Filioque procedit ), und die byzanti-
nische, nach welcher der Geist allein vom Vater ausgeht.
Aber diese Region hat ein recht unbestimmtes Statut und
beherbergt Entitäten von unterschiedlichster Konsistenz,
denn auch der Patriarch von Konstantinopel (der stets
bereit ist, sich mit dem Papst über das filioque zu streiten) würde dem Papst darin zustimmen (hoffe ich jedenfalls),
daß es wahr ist, daß Sherlock Holmes in der Baker Street
wohnte und Clark Kent dieselbe Person wie Superman ist.
Nun steht jedoch in unzähligen Romanen oder Poemen
geschrieben, daß – ich erfinde Beispiele aufs Geratewohl –
Hasdrubal Corinna umbringt oder Theophrast Theodolinda
wahnsinnig liebt, und trotzdem glaubt niemand, daß man
wahre Aussagen über sie machen könnte, denn es handelt
sich um glücklose oder schlecht gezeichnete Figuren, die
weder gewandert noch in die kollektive Erinnerung
eingegangen sind. Warum ist es in dieser Welt wahrer, daß
Hamlet Ophelia nicht heiratet, als daß Theophrast
Theodolinda geehelicht hat? Wie groß ist der Teil dieser
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Welt, in der Hamlet und Ophelia leben und nicht der
unglückliche Theophrast?
Manche Figuren sind in gewisser Weise kollektiv wahr
geworden, weil die Lesergemeinde im Lauf der Jahre oder
Jahrhunderte Leidenschaften in sie investiert hat. Wir
investieren individuelle Leidenschaften in vielerlei
Phantasien, die wir im Wachen oder im Halbschlaf
entwickeln. Wir können richtig gerührt sein, wenn wir an
den Tod einer geliebten Figur denken, oder uns physisch
erregen bei der Vorstellung, wir hätten mit ihr eine
erotische Beziehung, und in gleicher Weise, durch
Identifikations- oder Projektionsprozesse, können wir
erschüttert sein über das Los der Emma Bovary oder uns,
wie es
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