Die Bücher und das Paradies
sollte
man es dann nicht auch mit vorhandenen literarischen
Texten probieren, indem man Programme entwickelt, mit
denen man jene großen Geschichten verändern kann, die
uns zum Teil seit Jahrtausenden beschäftigen?
Bedenken wir nur, wir haben mit glühenden Wangen
Krieg und Frieden gelesen und uns mit banger Sorge
gefragt, ob Natascha den Schmeicheleien Anatols
schließlich erliegen wird, oder ob Pierre den Mut haben
21
wird, auf Napoleon zu schießen, und nun könnten wir uns
endlich unseren Tolstoi nach eigenem Gusto herrichten,
wir könnten Andrej ein langes glückliches Leben
schenken und Pierre zum Befreier Europas machen, und
damit nicht genug, wir könnten auch Emma Bovary
wieder mit ihrem armen Charles versöhnen, als glückliche
und zufriedene Mutter, wir könnten beschließen, daß
Rotkäppchen in den Wald geht und dort Pinocchio trifft,
oder daß es von der Stiefmutter entführt und als Sklavin
nach Amerika verkauft wird, wo es dann unter dem
Namen Aschenbrödel im Haushalt der Scarlett O’Hara
schuftet, oder daß es im Wald einem freundlichen Herrn
namens Wladimir Propp begegnet, der ihm einen
Zauberring schenkt, mit dessen Hilfe es dann an den
Wurzeln des heiligen Banyan der Thugs das Aleph
entdeckt, jenen Punkt, von dem aus man das ganze
Universum sehen kann, im Vordergrund Anna Karenina,
die nicht unter dem Zug stirbt, weil die russischen
Eisenbahnen mit verringerter Spurweite unter der
Regierung Putin noch schlechter als die U-Boote
funktionieren, und ganz hinten, noch hinter Alicens
Spiegel, Jorge Luis Borges, der den armen Funes el
memorioso daran erinnert, er solle bitte sehr nicht
vergessen, Krieg und Frieden in die Bibliothek von Babel zurückzubringen …
Wäre das schlecht? Nein, denn auch dies hat die
Literatur schon gemacht, und zwar lange vor der
Erfindung des Hypertexts, nämlich mit Mallarmés Projekt
seines Livre , mit den erlesenen Leichen der Surrealisten, mit den Milliarden Sonetten von Queneau oder den
mobilen Büchern der zweiten Avantgarde. Und dies ist es
auch, was die Jam Session im Jazz macht. Aber daß es die
Praxis der Jam Session gibt, die den Gang eines Themas
Abend für Abend verändert, entbindet uns nicht davon und
22
hält uns auch nicht davon ab, in Konzerte zu gehen, wo
Chopins b-moll-Sonate op. 35 jedesmal auf dieselbe Art
endet.
Jemand hat gesagt, durch das Spiel mit den
Mechanismen des Hypertexts entgehe man zwei Formen
der Repression, dem Gehorsam gegenüber fremd-
bestimmten Abläufen und der Verurteilung zur gesell-
schaftlichen Trennung zwischen denen, die schreiben, und
denen, die lesen. Ich halte das für Unsinn, aber sicher kann
das kreative Spiel mit Hypertexten, indem es die
bekannten Geschichten verändert und zur Erfindung neuer
beiträgt, eine faszinierende Tätigkeit sein, eine schöne
Übung in der Schule, eine neue Form des Schreibens, sehr
ähnlich der Jam Session. Sicher kann es schön und auch
lehrreich sein, sich im Verändern von bekannten Ge-
schichten zu üben, so wie es interessant wäre, Chopin für
Mandoline zu transkribieren: Es würde dazu dienen, das
musikalische Empfinden zu schärfen und zu verstehen,
warum der Klang des Klaviers so wesentlich für die
b-moll-Sonate ist. In gleicher Weise kann es zum
kritischen Sehen und zur Erkenntnis der Formen erziehen,
wenn man Collagen aus Fragmenten von Raffaels
Vermählung der Jungfrau , Picassos Demoiselles d’Avig-non und der neuesten Pokémon-Geschichte zusammen-
montiert. Genau besehen haben das viele große Künstler
getan.
Aber solche Spiele ersetzen nicht die wahre
Erziehungsfunktion der Literatur, die sich nicht auf die
Transmission moralischer Ideen, ob guter oder schlechter,
oder auf die Bildung des Sinns für das Schöne beschränkt.
Jurij Lotman zitiert in seinem Buch Kultur und
Explosion den berühmten Satz von Tschechow, dem
zufolge, wenn in einer Erzählung oder einem Drama zu
Beginn ein Gewehr an der Wand hängt, mit diesem
23
Gewehr vor dem Ende geschossen werden muß. Lotman
gibt uns zu verstehen, daß es nicht darum geht, ob dann
wirklich mit ihm geschossen wird. Gerade daß man nicht
weiß, ob mit dem Gewehr am Ende geschossen wird oder
nicht, verleiht ihm Bedeutung. Eine Erzählung lesen heißt
auch, sich von einer Spannung ergreifen lassen, von einem
Fieber. Die Entdeckung am Ende, daß mit dem Gewehr
geschossen worden ist oder nicht, hat nicht bloß den Wert
einer simplen Nachricht. Es
Weitere Kostenlose Bücher