Die Bücher und das Paradies
gebildet.
Als Dante in seiner Schrift De vulgari eloquentia die
verschiedenen italienischen Dialekte analysierte und
verwarf und sich vornahm, ein volgare illustre zu
schaffen, eine veredelte italienische Volkssprache, hätte
niemand einen roten Heller auf einen solchen Akt des
Hochmuts gewettet, und doch hat er mit der Divina
Commedia das Spiel gewonnen. Gewiß hat Dantes
»illustre Mundart« mehrere Jahrhunderte gebraucht, um
eine von allen gesprochene Sprache zu werden, aber wenn
es ihr schließlich gelungen ist, dann deshalb, weil die
Gemeinschaft der an die Literatur Glaubenden sich
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während der ganzen Zeit an jenes Modell gehalten hatte.
Und wenn es jenes Modell nicht gegeben hätte, wäre
vielleicht auch die Idee einer politischen Einheit nicht zum
Durchbruch gekommen. Vielleicht ist das der Grund,
warum Bossi kein volgare illustre spricht.2
Zwanzig Jahre voll schicksalhafter Höhen, unabänder-
licher Bestimmungen, unvermeidlicher Geschehnisse und
unermüdlich die Scholle furchender Pflüge haben am
Ende keine Spur im geläufigen Italienisch hinterlassen,
viel weniger jedenfalls als manche zu ihrer Zeit
inakzeptablen Kühnheiten der futuristischen Prosa. Und
wenn heute jemand den Triumph eines durch das
Fernsehen verbreiteten Durchschnittsitalienisch beklagt,
dann sollten wir nicht vergessen, daß der Appell zu einem
Durchschnittsitalienisch in seiner edleren Form durch die
klare und akzeptable Prosa eines Manzoni und dann eines
Svevo oder Moravia gegangen ist.
Indem die Literatur dazu beiträgt, die Sprache zu
formen, schafft sie Identität und Gemeinschaft. Ich habe
von Dante gesprochen, aber bedenken wir nur, was die
griechische Zivilisation ohne Homer gewesen wäre, die
deutsche Identität ohne die Tradition der Lutherbibel, die
russische Sprache ohne Puschkin, die indische Kultur ohne
ihre Gründungsepen.
Der Umgang mit Literatur hält aber auch unsere
individuelle Sprache lebendig. Viele beklagen heute die
Geburt eines neuen Telegrammstils, der sich durch die
Praxis der E-Mails und die Kurzbotschaften der Mobil-
telefone aufdrängt, in denen man selbst »Ich liebe dich«
mit einem Kürzel schreiben kann; aber vergessen wir
2 Seitenhieb auf Umberto Bossi, den Gründer und Chef der
separatistischen Lega Nord (A. d. Ü.).
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nicht, daß die Jugendlichen, die einander Botschaften in
dieser neuen Kurzschrift senden, zumindest teilweise
dieselben sind, die jene neuen Kathedralen des Buches
füllen, als welche sich die großen mehrgeschossigen
Buchhandlungen darstellen, und die, selbst wenn sie die
Bücher nur durchblättern und nicht kaufen, mit
kultivierten und elaborierten literarischen Stilen in
Berührung kommen, denen ihre Eltern und mit Sicherheit
ihre Großeltern niemals ausgesetzt waren.
Gewiß können wir sagen, daß diese Jugendlichen, eine
Mehrheit im Verhältnis zu den Lesern früherer
Generationen, nur eine Minderheit im Verhältnis zu den
sechs Milliarden Erdbewohnern sind, und ich bin auch
nicht so idealistisch zu glauben, daß den riesigen Massen,
denen es an Brot und Medikamenten gebricht, aus-
gerechnet die Literatur Erleichterung bringen könnte. Aber
eine Bemerkung möchte ich hier gerne machen: Jene
Unseligen, die sich ziellos zusammenrotten und töten,
indem sie Steine von Brücken werfen oder kleine Kinder
anzünden, werden nicht, was sie sind, weil sie durch das
Computer- Newspeak verdorben worden waren (sie haben
gar keinen Zugang zu Computern), sondern weil sie
ausgesperrt sind aus der Welt der Bücher und den Orten,
an welchen sie durch Erziehung und Diskussion mit jener
Wertewelt in Kontakt kommen könnten, die aus den
Büchern spricht und auf die Bücher zurückverweist.
Die Lektüre literarischer Werke zwingt uns, bei aller
Freiheit des Interpretierens Treue und Respekt zu üben. Es
gibt eine gefährliche Kritikermeinung, die typisch für
unsere Tage ist, nach der man mit literarischen Werken
machen kann, was man will, indem man alles aus ihnen
herausliest, was unsere tiefsten Triebe uns nahelegen. Das
ist falsch. Literarische Werke laden uns ein, sie frei zu
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interpretieren, insofern sie uns einen Diskurs mit mehr als
nur einer Lesart vorsetzen und uns mit den Mehr-
deutigkeiten sowohl der Sprache als auch des Lebens
konfrontieren. Doch um in diesem Spiel weiterzukommen,
in dem jede Generation die literarischen Werke anders
liest, muß man von einem tiefen Respekt vor dem erfüllt
sein,
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