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Die Bücher und das Paradies

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Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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ganzen Generationen ergangen ist, durch die
    Leiden des jungen Werther oder des Jacopo Ortis zum
    Selbstmord treiben lassen. Aber wenn uns jemand fragen
    würde, ob die Person, deren Tod wir uns vorgestellt haben,
    wirklich gestorben ist, würden wir mit Nein antworten,
    denn es war ja nur eine private Phantasie. Fragt man uns
    hingegen, ob Werther sich wirklich umgebracht hat, so
    antworten wir mit Ja, und die Phantasie, von der wir
    sprechen, ist keine private mehr, sondern eine kulturelle
    Realität, über die sich die ganze Lesergemeinde einig ist.
    Wir würden jemanden für verrückt erklären, der sich
    umbringt, nur weil er sich vorgestellt hat – wohl wissend,
    daß es sich um ein Produkt seiner Phantasie handelte –,
    daß seine Geliebte gestorben sei, aber wir bringen
    Verständnis für jene auf, die sich aus Kummer über
    Werthers Selbstmord umgebracht haben, obwohl sie
    wußten, daß es sich um eine fiktive Person handelte.
    Wir tun also gut daran, eine Region im Universum zu
    finden, wo diese Personen leben und unser Verhalten
    bestimmen, damit wir sie uns zu Vorbildern wählen
    können, für unser Leben und das der anderen, und damit
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    wir auf Anhieb verstehen, was es heißt, wenn wir von
    jemandem sagen, er habe einen Ödipuskomplex, ein
    donquichotteskes Verhalten, einen gargantuesken Appetit,
    er leide an Zweifeln wie Hamlet oder an Eifersucht wie
    Othello, er sei ein unheilbarer Don Juan oder eine
    notorische Circe. Und das gilt in der Literatur nicht nur für
    Personen, sondern auch für Objekte und Situationen.
    Warum sonst würden die Frauen im Zimmer, die kommen
    und gehen und über Michelangelo reden, die tausend
    Stäbe, hinter denen es keine Welt gibt, die kleine
    dunkelhellila Aster, die Wolke ungeheuer oben, die
    Mühen der Ebene, die schwarze Milch der Frühe, das
    heilignüchterne Wasser, die Ruhe über allen Wipfeln –
    und jeder mag hier seine eigenen Lieblingszitate ein-
    setzen4 –, warum sonst würden all diese Bilder und poe-
    tischen Formeln zu obsessiven Metaphern, die bereit-
    stehen, um uns bei jeder Gelegenheit zu wiederholen, wer
    wir sind, was wir wollen, wohin wir gehen, oder was wir
    nicht sind und was wir nicht wollen?
    Diese Entitäten der Literatur sind unter uns. Sie waren
    nicht immer schon da, wie (vielleicht) die Quadratwurzeln
    und das Theorem des Pythagoras, aber jetzt, nachdem sie
    einmal von der Literatur geschaffen worden sind und wir
    sie durch Investition unserer Leidenschaften genährt
    haben, sind sie da, und wir müssen unsere Rechnung mit

    4 Im Original stehen hier natürlich keine Zitate von Rilke, Benn, Brecht, Celan, Hölderlin und Goethe, sondern – nach dem ersten Zitat aus Eliots Lovesong of J. Alfred Prufrock – berühmte Stellen von Eugenio Montale ( i cocci aguzzi di bottiglia infissi nella muraglia, nel sole che abbaglia ), Guido Gozzano ( le buone cose di pessimo gusto ), nochmals Eliot, diesmal aus The Waste Land ( the fear shown in a handful of dust ), Giacomo Leopardi ( la siepe ), Petrarca ( le chiare, fresche e dolci acque )und schließlich Dantes fiero pasto , das »grausige Mahl«, Inferno 33, 1 (A. d. Ü.).
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    ihnen machen. Sagen wir ruhig, um ontologische und
    metaphysische Diskussionen zu vermeiden, sie existieren
    als kulturelle Haltungen oder soziale Anlagen. Aber auch
    das allgemeine Inzesttabu ist eine kulturelle Haltung, eine
    Idee, eine Anlage, und war doch stark genug, die
    Geschicke der menschlichen Gesellschaften zu be-
    stimmen.
    Nun sagen jedoch heute einige, auch die literarischen
    Figuren drohten sich zu verflüchtigen, unbeständig zu
    werden und jene Festigkeit zu verlieren, die uns zwang,
    ihre Geschicke nicht zu verleugnen. Wir sind in die Ära
    des Hypertexts eingetreten, und der elektronische
    Hypertext erlaubt uns nicht nur, durch riesige Textmassen
    zu navigieren (durch ganze Enzyklopädien oder das
    Gesamtwerk von Shakespeare), ohne zwangsläufig jede
    darin enthaltene Information einzeln »aufzufädeln«,
    sondern sie zu durchfahren, wie eine Stricknadel durch ein
    Wollknäuel fährt. Dank der Erfindung des Hypertexts hat
    sich auch die Praxis eines frei erfindenden Schreibens
    entwickelt. Im Internet gibt es Programme, mit denen man
    kollektiv Geschichten schreiben kann, indem man sich am
    Aus- und Weiterbau von Erzählungen beteiligt, die
    potentiell unendlich weitergehen. Und wenn so etwas mit
    einem Text möglich ist, den man zusammen mit einer
    Gruppe von virtuellen Freunden erfindet, warum

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