Die Bücher und das Paradies
ganzen Generationen ergangen ist, durch die
Leiden des jungen Werther oder des Jacopo Ortis zum
Selbstmord treiben lassen. Aber wenn uns jemand fragen
würde, ob die Person, deren Tod wir uns vorgestellt haben,
wirklich gestorben ist, würden wir mit Nein antworten,
denn es war ja nur eine private Phantasie. Fragt man uns
hingegen, ob Werther sich wirklich umgebracht hat, so
antworten wir mit Ja, und die Phantasie, von der wir
sprechen, ist keine private mehr, sondern eine kulturelle
Realität, über die sich die ganze Lesergemeinde einig ist.
Wir würden jemanden für verrückt erklären, der sich
umbringt, nur weil er sich vorgestellt hat – wohl wissend,
daß es sich um ein Produkt seiner Phantasie handelte –,
daß seine Geliebte gestorben sei, aber wir bringen
Verständnis für jene auf, die sich aus Kummer über
Werthers Selbstmord umgebracht haben, obwohl sie
wußten, daß es sich um eine fiktive Person handelte.
Wir tun also gut daran, eine Region im Universum zu
finden, wo diese Personen leben und unser Verhalten
bestimmen, damit wir sie uns zu Vorbildern wählen
können, für unser Leben und das der anderen, und damit
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wir auf Anhieb verstehen, was es heißt, wenn wir von
jemandem sagen, er habe einen Ödipuskomplex, ein
donquichotteskes Verhalten, einen gargantuesken Appetit,
er leide an Zweifeln wie Hamlet oder an Eifersucht wie
Othello, er sei ein unheilbarer Don Juan oder eine
notorische Circe. Und das gilt in der Literatur nicht nur für
Personen, sondern auch für Objekte und Situationen.
Warum sonst würden die Frauen im Zimmer, die kommen
und gehen und über Michelangelo reden, die tausend
Stäbe, hinter denen es keine Welt gibt, die kleine
dunkelhellila Aster, die Wolke ungeheuer oben, die
Mühen der Ebene, die schwarze Milch der Frühe, das
heilignüchterne Wasser, die Ruhe über allen Wipfeln –
und jeder mag hier seine eigenen Lieblingszitate ein-
setzen4 –, warum sonst würden all diese Bilder und poe-
tischen Formeln zu obsessiven Metaphern, die bereit-
stehen, um uns bei jeder Gelegenheit zu wiederholen, wer
wir sind, was wir wollen, wohin wir gehen, oder was wir
nicht sind und was wir nicht wollen?
Diese Entitäten der Literatur sind unter uns. Sie waren
nicht immer schon da, wie (vielleicht) die Quadratwurzeln
und das Theorem des Pythagoras, aber jetzt, nachdem sie
einmal von der Literatur geschaffen worden sind und wir
sie durch Investition unserer Leidenschaften genährt
haben, sind sie da, und wir müssen unsere Rechnung mit
4 Im Original stehen hier natürlich keine Zitate von Rilke, Benn, Brecht, Celan, Hölderlin und Goethe, sondern – nach dem ersten Zitat aus Eliots Lovesong of J. Alfred Prufrock – berühmte Stellen von Eugenio Montale ( i cocci aguzzi di bottiglia infissi nella muraglia, nel sole che abbaglia ), Guido Gozzano ( le buone cose di pessimo gusto ), nochmals Eliot, diesmal aus The Waste Land ( the fear shown in a handful of dust ), Giacomo Leopardi ( la siepe ), Petrarca ( le chiare, fresche e dolci acque )und schließlich Dantes fiero pasto , das »grausige Mahl«, Inferno 33, 1 (A. d. Ü.).
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ihnen machen. Sagen wir ruhig, um ontologische und
metaphysische Diskussionen zu vermeiden, sie existieren
als kulturelle Haltungen oder soziale Anlagen. Aber auch
das allgemeine Inzesttabu ist eine kulturelle Haltung, eine
Idee, eine Anlage, und war doch stark genug, die
Geschicke der menschlichen Gesellschaften zu be-
stimmen.
Nun sagen jedoch heute einige, auch die literarischen
Figuren drohten sich zu verflüchtigen, unbeständig zu
werden und jene Festigkeit zu verlieren, die uns zwang,
ihre Geschicke nicht zu verleugnen. Wir sind in die Ära
des Hypertexts eingetreten, und der elektronische
Hypertext erlaubt uns nicht nur, durch riesige Textmassen
zu navigieren (durch ganze Enzyklopädien oder das
Gesamtwerk von Shakespeare), ohne zwangsläufig jede
darin enthaltene Information einzeln »aufzufädeln«,
sondern sie zu durchfahren, wie eine Stricknadel durch ein
Wollknäuel fährt. Dank der Erfindung des Hypertexts hat
sich auch die Praxis eines frei erfindenden Schreibens
entwickelt. Im Internet gibt es Programme, mit denen man
kollektiv Geschichten schreiben kann, indem man sich am
Aus- und Weiterbau von Erzählungen beteiligt, die
potentiell unendlich weitergehen. Und wenn so etwas mit
einem Text möglich ist, den man zusammen mit einer
Gruppe von virtuellen Freunden erfindet, warum
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