Die Buecher und das Paradies
Theorie eher mit der korybantischen Orgie und der eleusinischen Initiation durch betäubende Düfte und Drogen (oder heutzutage mit der Zelebrierung des Saturday Night Fever) assoziiert wird.
Hüten wir uns davor, die Unterscheidung der beiden Ebenen so zu verstehen, als gäbe es auf der einen den leicht zufriedenzustellenden Leser, der sich nur für die Story interessiert, und auf der anderen den Leser mit ästhetisch verfeinertem Gaumen, für den allein die Sprache zählt. Wenn das so wäre, müßten wir einen Roman wie den Grafen von Montecristo auf der ersten Ebene mit roten Ohren lesen, womöglich auf Schritt und Tritt heiße Tränen vergießend, dann auf der zweiten Ebene pflichtbewußt feststellen, daß er, stilistisch gesehen, sehr schlecht geschrieben ist, und daraus schließen, daß es sich um einen ganz miserablen Roman handelt. Dabei ist es gerade das Wunder von Werken wie Der Graf von Montecristo, daß sie, obwohl tatsächlich sehr schlecht geschrieben, Meisterwerke der erzählenden Literatur sind. Folglich ist der Leser zweiten Grades nicht nur derjenige, der bemerkt, daß der Roman schlecht geschrieben ist, sondern auch derjenige, der sich bewußt macht, daß trotz dieses Mangels die narrative Struktur perfekt ist, die Archetypen alle am richtigen Platz stehen, die dramatischen Überraschungen millimetergenau dosiert sind, der Atem (wenn auch bisweilen keuchend) fast homerisch ist - so daß abfällig über den Grafen von Montecristo zu reden, weil seine Sprache nicht gut ist, so wäre wie abfällig über die Opern Verdis zu reden, weil Francesco Maria Piave oder Salvatore Cammarano nicht Leopardi waren. Der Leser zweiten Grades ist folglich auch derjenige, der sich bewußt macht, wie gut es dem Werk gelingt, auf der ersten Ebene zu funktionieren.
Allerdings ist es sicher diese zweite Ebene der kritischen Lektüre, auf der sich entscheidet, ob ein Text zwei oder mehr Sinnschichten hat, ob es sich lohnt, nach einem allegorischen Sinn zu fahnden, ob die Fabel auch vom Leser erzählt - und ob sich diese verschiedenen Sinnschichten zu einem soliden und harmonischen Ganzen verbinden oder unabhängig fluktuieren können. Erst der Leser zweiten Grades kann entscheiden, daß es schwierig ist, in der Fabel vom Wolf und dem Lamm den wörtlichen Sinn vom moralischen Sinn zu trennen (als ob es ohne den moralischen Sinn keinen Sinn hätte, von diesem Streit unter Tieren zu sprechen), während man mit Genuß und Ehrfurcht lesen kann: In exitu Israel de Aegypto, / domus Iacob de populo barbaro, / facto, est Iudaea sanctificatio eius, /Israelpotestas eius, auch ohne zu wissen, daß diese Verse unter anderem im anagogischen Sinne bedeuten: »die geheiligte Seele tritt aus der Knechtschaft der irdischen Verderbnis hinaus in die Freiheit ewigen
Ruhmes« 5 - und wer will nachprüfen, ob der Text des Psalmisten wirklich auch dies sagen wollte.
Gewiß gibt es viele Ähnlichkeiten zwischen dem ästhetisch und kritisch versierten Leser zweiten Grades und demjenigen, der konfrontiert mit Fällen von intertextueller Ironie sofort die Verweise auf das literarische Universum erfaßt. Aber die beiden Positionen können nicht einfach gleichgesetzt werden. Nehmen wir zwei Beispiele.
Bei der Fabel vom Wolf und dem Lamm gibt es zwei Sinne, (den wörtlichen und den moralischen), und gewiß auch zwei Leser: den, der nicht nur die Geschichte verstehen will (wörtlicher Sinn), sondern auch ihre Moral, und den, der die stilistischen und erzählerischen Meriten des Fabeldichters Phaedrus erkennt. Aber es liegt keine intertextuelle Ironie vor, denn Phaedrus zitiert niemanden, oder wenn er einen älteren Fabeldichter zitiert, kopiert er ihn bloß. Homers Odysseus tötet die Freier: Hier gibt es nur einen Sinn, aber noch immer zwei Leser, den, der die Rache des Odysseus genießt, und den, der die Kunst Homers genießt, aber kein ironisches Zitat. In Joyces Ulysses gibt es zwei Sinne im biblisch-danteschen Verständnis (die Geschichte von Leopold Bloom als Allegorie der Geschichte von Odysseus), aber es ist schwer zu übersehen, daß es sich um eine Geschichte handelt, die den Irrfahrten des Odysseus nachgebildet ist, und sollte jemand das nicht von allein bemerken, würde ihm der Titel den Schlüssel liefern. Auch hier sind zwei Ebenen der Lektüre noch möglich, denn es kann ja immerhin sein, daß jemand den Ulysses nur liest, um zu wissen, wie die Geschichte ausgeht, auch wenn eine so begrenzte und begrenzende Lektüre höchst
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