Die Buecher und das Paradies
die Bezugnahme auf und genießen die Ironie - und dabei meine ich nicht nur das gebildete Augenzwinkern, das ihnen der Autor zuwirft, sondern auch den Banalisierungs- oder Verzerrungseffekt (wenn das Zitat in einem Kontext steht, der sich von dem der Quelle kraß unterscheidet) und den allgemeinen Verweis auf das ununterbrochene Gespräch, das zwischen den verschiedenen Texten geführt wird.
Wenn wir das Phänomen der intertextuellen Ironie einem Studenten im ersten Semester erklären müßten oder jedenfalls einem noch unerfahrenen Leser, so müßten wir vielleicht sagen, daß ein Text aufgrund dieser Zitatstrategie zwei Ebenen der Lektüre präsentiert. Wenn wir jedoch statt eines unerfahrenen Lesers einen Kenner der Literaturtheorien vor uns hätten, könnten wir durch zwei mögliche Fragen in Schwierigkeiten gebracht werden.
Erste Frage: Aber hat intertextuelle Ironie nicht vielleicht damit zu tun, daß man einen Text nicht nur auf zwei, sondern sogar auf vier verschiedenen Ebenen lesen kann, nämlich der wörtlichen, der moralischen, der allegorischen und der anagogischen, wie es die gesamte
Bibel exegese lehrt und wie es Dante in der Epistola XIII für sein eigenes dichterisches Werk beansprucht?
Zweite Frage: Aber hat intertextuelle Ironie nicht vielleicht mit den beiden Modell-Lesern zu tun, von denen die Textsemiotiker sprechen, allen voran Eco, nämlich erstens dem sogenannten semantischen Leser und zweitens dem sogenannten kritischen oder ästhetischen Leser?
Ich werde versuchen zu zeigen, daß es sich um drei ziemlich verschiedene Phänomene handelt. Aber es ist keine unnütze Übung, auf diese beiden scheinbar naiven Fragen zu antworten, denn wir werden dabei sehen, daß wir es hier mit einem nicht leicht entwirrbaren Knoten von Verwandtschaftsbeziehungen zu tun haben.
Nehmen wir die erste Frage, also die Theorie der mehrfachen Sinnschichten eines Textes. Man braucht nicht an den vierfachen Sinn der Heiligen Schrift zu denken, es genügt, den moralischen Sinn der Fabeln zu nehmen: Gewiß kann ein naiver Leser die Fabel vom Wolf und dem Lamm als den Bericht über einen Streit zwischen Tieren auffassen, aber auch wenn der Autor sich nicht beeilen würde, ihm zu sagen, de te fabula narratur, wäre es doch sehr schwer, nicht auch einen gleichnishaften Sinn zu erkennen, eine allgemeine Lehre, wie sie eben in den biblischen Gleichnissen vorliegt.
Diese gleichzeitige Präsenz eines wörtlichen und eines moralischen Sinnes gibt es in der gesamten erzählenden Literatur, selbst in der, die sich am wenigsten um die Erziehung des Lesers kümmert, wie gewöhnliche Krimis aus der Retorte: Selbst aus diesen könnte ein aufmerksamer und sensibler Leser eine Reihe moralischer Lehren ziehen - daß Verbrechen sich nicht lohnt, daß am Ende alles herauskommt, daß Recht und Gesetz schließlich siegen, daß die menschliche Vernunft auch die vertracktesten Rätsel zu lösen vermag.
Man könnte sogar sagen, in manchen Werken geht der moralische Sinn eine derart feste Einheit mit dem wörtlichen ein, daß sie zusammen einen einzigen Sinn bilden. Aber selbst in einem so offen moralisierenden Roman wie den Promessi Sposi bringt die Sorge, der Leser könnte womöglich nur die Geschichte verschlingen und die moralische Lehre übersehen, den Autor dazu, hin und wieder sentenziöse Präzisierungen einzufügen, damit der Verschlinger neogotischer Ritter- und Burgengeschichten sich nicht bloß an der Entführung Lucias oder am Tod Don Rodrigos ergötzt, sondern auch die Lehre über das Walten der Vorsehung beherzigt.
Wie groß ist die wirkliche Unabhängigkeit der Ebenen, wenn sie sich vervielfältigen? Kann man die Divina Commedia lesen, wenn man ihre anagogische Botschaft nicht erfaßt? Ich würde sagen, genau das hat ein großer Teil der romantischen Kritik getan. Kann man die Prozession des Purgatoriums lesen, ohne ihre allegorische Reichweite zu erfassen? Eine gute surrealistische Lektüre könnte es schon. Und was das Paradies betrifft, so ist Beatrice lächelnd und strahlend genug, um jeden Leser zu verzaubern, auch wenn er nichts von höheren Bedeutungen weiß, und eine gewisse Kritik, die sich an Kriterien der reinen Lyrizität orientierte, hat sogar behauptet, man müsse all diese störenden »Höhersinne« als ganz und gar sachfremd und abwegig ignorieren.
Man könnte also sagen, daß diejenigen Ebenen der Lektüre, die von den höheren Sinnschichten abhängen, je nach Epoche aktiviert oder nicht aktiviert werden
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