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Die Buecher und das Paradies

Titel: Die Buecher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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können und manchmal auch gänzlich unerreichbar bleiben, wie es nicht nur bei Texten aus sehr alten Kulturen vorkommt, sondern auch bei vieler Malerei aus noch nicht viele Jahrhunderte zurückliegender Zeit, zum Beispiel wenn der Museumsbesucher, der nicht gerade ein Ikonograph oder
    Ikonologe ist (und sogar der rein »visibilistische« Kritiker) einen Giorgione oder einen Poussin genießt, ohne zu wissen, auf welche verborgenen Mythologeme ihre Bilder verweisen (doch wir sind überzeugt, daß Panofsky, der sie auf beiden Ebenen zu lesen verstand, auf der der Formen wie auf der der ikonographischen Verweise, sie sogar noch mehr genoß).
    Ganz anders ist die Antwort auf die zweite Frage. Ich habe in meinen theoretischen Schriften wiederholt dargelegt, daß jeder Text (besonders einer mit ästhetischer Zielsetzung, hier also ein narrativer) die Tendenz hat, sich einen doppelten Modell-Leser zu erschaffen. Zunächst wendet er sich an einen Modell-Leser ersten Grades, nennen wir ihn den »semantischen«, der vor allem wissen will, und zwar völlig zu Recht, wie die Geschichte ausgeht (ob es Kapitän Ahab gelingt, den Weißen Wal zu fangen, ob Leopold Bloom und Stephen Dedalus sich begegnen, nachdem sie sich am 16. Juni 1904 mehrmals zufällig über den Weg gelaufen sind, ob Pinocchio wieder ein richtiger Junge aus Fleisch und Bein wird, ob es dem Erzähler Marcel gelingt, sein Problem mit der Verlorenen Zeit zu lösen). Aber der Text wendet sich auch an einen ModellLeser zweiten Grades, nennen wir ihn den »semiotischen« oder »ästhetischen«, der sich fragt, was für eine Art von Leser er werden müßte, um der Erzählung voll zu entsprechen, und der herausfinden möchte, wie der ModellAutor es anstellt, ihm auf Schritt und Tritt die nötigen Informationen zu geben. Schlicht gesagt, der Leser ersten Grades will wissen, was geschieht, der Leser zweiten Grades will wissen, wie das, was geschieht, erzählt worden ist. Um zu erfahren, wie die Geschichte ausgeht, genügt es in der Regel, sie einmal zu lesen. Um ein Leser zweiten Grades zu werden, muß man sie viele Male lesen, und manche Geschichten liest man nie aus.
    Es gibt keine Leser, die ausschließlich Leser zweiten Grades sind; im Gegenteil, um ein Leser zweiten Grades zu werden, muß man zunächst ein guter Leser ersten Grades gewesen sein. Wer beim erstmaligen Lesen der Promessi Sposi nicht wenigstens einen kleinen Schauder verspürt, als Lucia sich plötzlich dem Ungenannten gegenüb ersieht, kann die Art, wie Manzonis Roman gemacht und beschaffen ist, nicht schätzen lernen. Aber zweifellos kann man ein Leser ersten Grades sein, ohne jemals zum zweiten Grad zu gelangen - wie es der Fall ist, wenn jemand sich gleichermaßen für die Promessi Sposi und für Gargantua begeistert, ohne sich bewußt zu machen, daß der zweite einen wesentlich reicheren Wortschatz hat. Oder umgekehrt, wenn sich jemand, nicht zu Unrecht, beim Lesen des Renaissance-Romans Hypnerotomachia Poliphili 4 langweilt, weil er zwischen all jenen Neologismen und Latinisierungen nicht zu erkennen vermag, wie die Geschichte ausgeht.
    Genau besehen ist es das Spiel zwischen diesen beiden Lektüre-Ebenen, in dem sich die zwei Arten des Verständnisses von Katharsis in der aristotelischen Poetik und in der Ästhetik im allgemeinen bewegen. Bekanntlich läßt sich Katharsis ja sowohl in »homöopatischer« als auch in »allopathischer« Weise interpretieren: Im ersten Fall ergibt sie sich aus der Tatsache, daß der Tragödienzuschauer wirklich von Furcht und Mitleid erfaßt wird, und zwar so tief, daß er sich durch das Erleiden dieser
    Passionen reinigt und dann befreit aus der tragischen Erfahrung herauskommt; im zweiten Fall versetzt uns der tragische Text durch eine Verfremdung fast brechtischer Art in eine Distanz zu der dargestellten Passion, und wir befreien uns nicht, indem wir die Passion mitleiden, sondern indem wir die Art und Weise bewundern, in der sie dargestellt wird. Nun wird jeder leicht erkennen, daß für eine Katharsis der homöopathischen Art ein Zuschauer ersten Grades genügt (derselbe, der vor Freude weint, wenn im klassischen Western endlich die rettende Kavallerie erscheint), während eine allopathische Katharsis einen Leser zweiten Grades erfordert - was zur Folge hat, daß, vielleicht zu Unrecht, der Theorie von der allopathischen Katharsis eine größere philosophische Würde zuerkannt wird, eine reinere und reinigendere Sicht der Kunst, während die homöopathische

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