Die Buecher und das Paradies
hypnotisiert. Um diese Seiten zu schreiben, habe ich zwei Dinge getan: Einerseits habe ich mehrere Nächte unter dem Turm verbracht, bemüht, mich genau in die Mitte zwischen seine »Beine« zu stellen und ihn aus allen möglichen Blickwinkeln zu betrachten, immer von unten nach oben. Andererseits habe ich mir aber auch alle literarischen Texte zusammengesucht, die über den Eiffelturm geschrieben worden sind, besonders zur Zeit seiner Erbauung, meist indignierte und wütende Ablehnungen, und was mein Protagonist sieht und hört, ist eine stark zusammengedrängte Collage sehr vieler Poesie- und Prosafragmente. Ich erwartete nicht, daß meine Leser all diese Zitate erkennen würden (ich selbst kann sie heute nicht mehr genau identifizieren und auseinanderhalten), aber sicher wünschte ich mir, daß die versierteren Leser den Schatten eines déjà vu verspürten. Zugleich ermöglichte ich dem naiven Leser, die gleichen Eindrücke zu empfinden, die ich unter dem Turm gehabt hatte, auch wenn er nicht wußte, daß sie von so viel vorangegangener Literatur genährt worden waren.
Es ist zwecklos, sich verbergen zu wollen, daß zwar nicht der Autor, wohl aber der Text den intertextuell beschlagenen Leser gegenüber dem naiven privilegiert. Intertextuelle Ironie betreibt eine Art »Klassenauslese«. Es kann eine snobistische Lektüre der Bibel geben, die sich damit begnügt, nur den wörtlichen Sinn zur Kenntnis zu nehmen oder allenfalls die rhythmische Schönheit des hebräischen Textes oder der Vulgata zu schätzen (womit sie freilich den ästhetisch versierten Leser ins Spiel bringt), aber es kann keine snobistische Lektüre eines Textes mit intertextueller Ironie geben, die sein dialogisches Element ignoriert. Intertextuelle Ironie ruft die happy few zusammen - nur daß diese sich bei ihr um so glücklicher fühlen, je weniger sie sind.
Sobald ein Text die Mechanik der intertextuellen Ironie in Gang setzt, muß er sich freilich darauf gefaßt machen, daß er nicht nur die vom Autor gewollten Bezüge produziert, denn die Möglichkeit einer doppelten Lektüre hängt ja vom Umfang der Textkenntnis des Lesers ab, also vom Umfang seiner Belesenheit, und dieser Umfang kann je nach Fall variieren. Auf einem Kongreß in Löwen, im Jahre 1999, hat Inge Lanslots scharfsinnige Beobachtungen über viele Anspielungen auf Jules Verne gemacht, die sich durch die Insel des vorigen Tages ziehen, und sicher hatte sie recht. Im Laufe ihrer mündlichen Darlegung hat sie dann auch Bezugnahmen auf einen anderen Roman von Verne gefunden (den ich offen gesagt gar nicht kannte), in dem zahlreiche tickende Uhren beschrieben werden, ganz wie in meinem Roman. Nicht daß ich die Intentionen des empirischen Autors als Maßstab für die Gültigkeit von Interpretationen des Textes nehmen wollte, aber ich konnte nicht umhin zu erwidern, der Leser solle lieber die vielen Zitate aus der Barockliteratur wahrnehmen, die sich überall im Text finden. Nun ist der Topos der tickenden Uhren typisch für das Barock, man denke nur an die Gedichte von Lubrano. Allerdings kann man von einer ausländischen Literaturwissenschaftlerin, die nicht auf das italienische Barock spezialisiert ist, schwerlich die Kenntnis eines poeta minore unseres Settecento verlangen, und ich räumte ein, daß die Spur, die sie verfolgte, selbstverständlich keine verbotene war. Wenn man sich auf die Suche nach verborgenen Anspielungen macht, ist es schwer zu sagen, ob der Autor recht hat, der nichts von ihnen wußte, oder der Leser, der sie gefunden hat. Aber ich gab zu bedenken, daß die Entdeckung einer Bezugnahme auf die Barockdichtung gut zu den allgemeinen Charakteristika dieses Textes paßt, während die Entdeckung einer Bezugnahme auf Jules Verne hier zu nichts weiter führt.
Offensichtlich hat die Diskussion die Rednerin überzeugt, denn ich finde keine Spur mehr von diesen Bemerkungen in den Akten jenes Kongresses (die bald erscheinen werden).
Es gibt jedoch andere Fälle, in denen es sehr viel schwieriger ist, die Belesenheit des Lesers zu überprüfen. Im Foucaultschen Pendel habe ich meinen Erzähler Casaubon getauft, und dabei dachte ich an Isaac Casaubon, den Genfer Philologen, der mit untadeligen kritischen Argumenten das Corpus Hermeticum entmythi-fiziert hat. Mein Modell-Leser zweiten Grades, der Zugang zur intertextuellen Ironie hat, könnte eine gewisse Analogie entdecken zwischen dem, was der große Philologe begriffen hatte, und dem, was mein Erzähler am Ende
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