Die Buecher und das Paradies
unwahrscheinlich ist - falls wirklich jemand solch einen Aufwand treiben wollte, müßte man ihm raten, das Experiment nach dem ersten Kapitel abzubrechen, um sich Geschichten vorzunehmen, die rascher befriedigen. Unmöglich ist es jedoch, Finnegans Wake anders denn als ein riesiges intertextuelles Experimentierfeld zu lesen - es sei denn, man will sich den Text laut vorlesen, um ihn wie Musik zu genießen. Sinnschichten gibt es hier einige mehr als die vier der Heiligen Schrift, ihre Zahl ist unbegrenzt oder jedenfalls undefiniert. Der Leser ersten Grades verfolgt eine oder zwei mögliche Lesarten jedes einzelnen Wortspiels, hält dann erschöpft inne, verliert den Faden, steigt zur zweiten Ebene auf, um den Scharfsinn einer unvorhersehbaren und unauflöslichen Verschachtelung von Etyms und möglichen Lesarten zu bewundern, kehrt wieder zur ersten Ebene zurück und versucht erneut zu begreifen, ob im Text etwas geschieht, verliert den Faden abermals, und so geht es immer weiter. Finnegans Wake hilft uns nicht, die hier besprochenen Unterscheidungen zu verstehen, er stellt sie alle in Frage, er bringt alle Karten durcheinander. Aber das tut er ohne Verstellung, er täuscht dem naiven Leser nichts vor, indem er ihn vorankommen läßt, ohne daß er merkt, auf was für ein Spiel er sich einläßt. Nein, er packt den naiven Leser beim Kragen und befördert ihn mit einem Fußtritt zur Dienstbotentür hinaus.
Bei der Arbeit an diesen Unterscheidungen wird einem, denke ich, bewußt, daß die Pluralität der Sinnschichten ein Phänomen ist, das sich in einem Text auch dann herstellt, wenn der Autor überhaupt nicht daran gedacht und nicht das geringste dafür getan hat, eine Lektüre auf mehreren Ebenen zu ermutigen. Auch der billigste Schreiberling, der primitive Geschichten voller Blut, Horror, Sex und Gewalt erzählt, kann nicht vermeiden, einen moralischen Sinn mitschwingen zu lassen, sei’s auch nur den, daß Indifferenz gegenüber dem Bösen oder Verherrlichung von Sex und Gewalt die einzigen anzustrebenden Werte seien.
Das gleiche läßt sich auch von den beiden Ebenen der Lektüre sagen, der semantischen und der ästhetischen. Genau bedacht gibt es diese Möglichkeit sogar bei einem Eisenbahnfahrplan. Zwei verschiedene Fahrpläne können mir auf der semantischen Ebene die gleiche Information liefern, aber ich kann den einen besser aufgebaut und leichter benutzbar finden als den anderen, also zu einem Qualitätsurteil über die Machart und Funktionalität übergehen, das mehr das Wie als das Was bewertet.
Anders steht es mit der intertextuellen Ironie. Außer in Fällen, in denen es um die Suche nach Plagiaten oder nach unbewußten intertextuellen Echos geht, präsentiert sich eine Literatur, die mit Zitaten spielt, gewöhnlich als eine Herausforderung des Lesers durch einen Text (um nicht von den Intentionen des Autors zu sprechen), der gewissermaßen dazu auffordert, sein dialogisches Geheimnis zu entdecken.
Als Autor von Romanen, die gern und viel mit intertextuellen Zitaten spielen, bin ich immer froh, wenn der Leser die Bezugnahme oder den Wink versteht; doch auch wenn man die Wünsche des empirischen Autors beiseite läßt - wer immer zum Beispiel in der Insel des vorigen Tages Anspielungen auf die Geheimnisvolle Insel von Jules Verne gefunden hat (etwa die anfängliche Frage, ob es sich um eine Insel oder um Festland handelt), muß wünschen, daß auch die anderen Leser diesen augenzwinkernden Wink des Textes bemerken.
Natürlich ist, wenn hier intertextuelle Ironie vorliegt, dies gerade deshalb der Fall, weil auch die Lektüre derjenigen als legitim anerkannt werden muß, die hier lediglich die Geschicke eines Schiffbrüchigen verfolgen, der nicht weiß, ob er vor einer Insel oder einem Festland Schiffbruch erlitten hat. Aufgabe des ästhetisch versierten Lesers ist es, die Entscheidung zu treffen, daß auch die erste Lektüre aus eigener Kraft legitim ist und daß der Text sie zuläßt. Wenn ich im selben Roman einen Doppelgänger einführe, nehme ich hin, daß es Leser gibt, die sich wundern und sich über die scheinbar unmotivierte Situation erregen, aber ich hoffe auf Leser, die sich bewußt machen, daß die Präsenz eines Doppelgängers in einem barocken Roman obligatorisch ist.
Wenn im Foucaultschen Pendel der Erzähler Casaubon seine letzte Nacht in Paris zu Füßen des Eiffelturms verbringt, erscheint ihm dieses Bauwerk von unten gesehen wie ein monströses Wesen, und er fühlt sich von ihm fast
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