Die Buecher und das Paradies
Scherz und wenn nicht geradezu ein Studentenjux, so doch höchstens eine literarische Übung in dem damals beliebten Genre der Utopien.
Der Brief des Priesters Johannes war sicher eine bewußte Fälschung, aber er sollte wohl nicht die Folgen haben, die er faktisch hatte.
Kosmas Indikopleustes war dem Fundamentalismus erlegen, eine verzeihlichen Schwäche in seiner Zeit, aber wie wir sahen, hat ihn niemand wirklich ernst genommen, und sein Text ist ironischerweise erst tausend Jahre später als »maßgeblich« wieder ausgegraben worden.
Die »Protokolle« sind zunächst fast von allein entstanden, durch Agglomeration von Romanthemen, die nach und nach die Phantasie einiger Fanatiker entzündeten und sich dabei in etwas anderes verwandelten.
Dennoch hatte jede dieser Fiktionen einen Vorteil: Sie klang als Erzählung wahrscheinlich, jedenfalls wahrscheinlicher als die historische oder alltägliche Realität, die sehr viel komplexer und unglaubwürdiger klingt; sie schien etwas gut zu erklären, was sonst schwer zu verstehen war.
Nehmen wir noch einmal die Fiktion des Ptolemäus. Heute wissen wir, daß die ptolemäische Hypothese falsch war. Doch wenn unser Verstand inzwischen auch kopernikanisch ist, unsere Wahrnehmung ist immer noch ptolemäisch: Wir sehen nicht nur die Sonne im Osten aufgehen und während des Tages über den Himmel wandern, sondern wir verhalten uns auch so, als ob die Sonne sich um die Erde drehte und wir stillstünden. Und wir sagen: »Die Sonne geht auf, steht hoch am Himmel, sinkt und geht unter .« So ptolemäisch spricht, denkt und fühlt auch ein Astronomieprofessor.
Warum sollte man die Fiktion der Konstantinischen Schenkung verwerfen? Sie gewährleistete einen Fortbestand der Macht nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches, sie perpetuierte eine Idee der
Latinität, sie gab eine Führung an, einen Bezugspunkt zwischen den rauchenden Trümmern der Massaker, die von den vielen Bewerbern um das Erbe Europas angerichtet worden waren ...
Warum sollte man die Fiktion des Kosmas verwerfen? In anderer Hinsicht war er ein aufmerksamer Reisender gewesen, ein sorgfältiger Sammler geographischer und historischer Kuriositäten, und außerdem konnte seine Theorie der flachen Erde - zumindest aus erzählerischer Sicht - eine gewisse Wahrscheinlichkeit beanspruchen. Die Erde war ein großes Rechteck, begrenzt von vier riesigen Wänden, die zwei übereinandergeschichtete Himmelsgewölbe stützten: Am ersten glänzten die Sterne, und darüber, im Zwischenraum, lebten die seligen Geister. Die astronomischen Phänomene erklärten sich durch die Präsenz eines hohen Berges im Norden, der die Nacht erzeugte, indem er die Sonne verdeckte, und der die Eklipsen hervorrief, indem er sich zwischen Sonne und Licht schob .
Sogar Cyrus R. Teeds Theorie der Hohlwelt war für die Mathematiker des 19. Jahrhunderts schwer zu widerlegen, denn es ist möglich, die konvexe Oberfläche der Erde auf eine konkave Fläche zu projizieren, ohne daß allzu viele Diskrepanzen bemerkbar sind.
Warum sollte man die Fiktion der Rosenkreuzer verwerfen, wenn sie einer Erwartung religiöser Eintracht entgegenkam? Und warum die Fiktion der »Protokolle« verwerfen, wenn sie so viele historische Ereignisse durch den Mythos der Konspiration erklären konnte? Wie Karl Popper in Erinnerung gerufen hat: »Die Konspirationstheorie der Gesellschaft . ähnelt Homers Theorie der Gesellschaft. Homer konzipierte die Macht der Götter so, daß alles, was in der Ebene von Troja geschah, nur einen Reflex der diversen Verschwörungen auf dem Olymp darstellte. Die Konspirationstheorie der Gesellschaft ... kommt aus der Abkehr von Gott und aus der Frage: >Wer ist an seine Stelle getreten?< An seine Stelle werden dann verschiedene mächtige Personen und Gruppen gesetzt -sinistre pressure groups, denen man vorwerfen kann, die große Depression geplant zu haben und alle Übel, unter denen wir leiden.« 12
Warum sollte man den Glauben an Konspiration und Komplott für absurd halten, wenn er noch heute dazu benutzt wird, das Scheitern des eigenen Handelns zu erklären oder die Tatsache, daß die Dinge sich anders entwickelt haben, als man es gewollt hatte?
Auch Fiktionen sind in erster Linie Erzählungen, wie immer auch falsche, und Erzählungen sind, wie die Mythen, stets überzeugend. Und von wie vielen anderen falschen Erzählungen könnte man sprechen ... Zum Beispiel vom Mythos der Terra Australis, diesem immensen Kontinent, der sich über die
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