Die Buecher und das Paradies
zwanzig noch nicht so sagen können, aber ich tauchte aus der Lektüre wie mit verklebten Augen auf, nicht so sehr, wie es in Träumen vorkommt, sondern eher wie bei jenem langsamen morgendlichen Erwachen aus einem Traum, wenn sich die ersten bewußten Reflexionen noch mit den letzten Resten des Traums vermengen und die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmt (oder noch nicht überwunden ist). Schon ohne Proust gelesen zu haben, war mir klar, daß ich einen Nebeleffekt verspürt hatte.
Ich habe die Erzählung viele Male im Laufe der letzten fünfundvierzig Jahre gelesen, und jedesmal habe ich mir selbst und den anderen zu erklären versucht, warum sie diese Wirkung auf mich ausübt. Jedesmal glaubte ich es entdeckt zu haben, und doch erlag ich jedesmal, wenn ich sie wiederzulesen begann, erneut diesem Nebeleffekt.
Im folgenden werde ich zu klären versuchen, warum und wie es dem Text gelingt, seine Nebeleffekte zu produzieren. Wer mir dabei folgen will, braucht jedoch nicht zu fürchten, daß ihm der Zauber von Sylvie abhanden kommt, weil er zuviel darüber weiß. Im Gegenteil, je mehr er darüber weiß, desto besser wird es ihm gelingen, beim Lesen erneut ins Staunen zu geraten. 4
Labrunie und Nerval
Zunächst muß ich eine sehr wichtige Unterscheidung treffen. Ich möchte gleich zu Beginn eine störende Person beseitigen, nämlich den empirischen Autor. Der empi-rische Autor dieser Erzählung hieß Gérard Labrunie und schrieb unter dem Künstlernamen Gérard de Nerval.
Wenn wir bei der Lektüre von Sylvie an Labrunie denken, geraten wir sofort auf Abwege. Zum Beispiel muß dann untersucht werden, wie es viele Exegeten getan haben, ob und wie viele der in Sylvie erzählten Fakten sich auf Labrunies Leben beziehen. Daher sind die Ausgaben und Übersetzungen von Sylvie im allgemeinen mit biographischen Anmerkungen versehen, in denen erörtert wird, ob Aurélie die Schauspielerin Jenny Colon sein könnte (deren Anblick einen, wenn man ihr in manchen Ausgaben reproduziertes Porträt sieht, ratlos macht), ob es in Loisy wirklich eine Bogenschützenkompanie gab (oder ob das nicht eher in Creil der Fall war), ob Labrunie tatsächlich eine Erbschaft seines Onkels erhalten hat und ob die Figur der Adrienne von Sophie Dawes, der Baronesse de Feuchères, inspiriert war. Viele solide akademische Karrieren sind auf der Grundlage solcher peniblen Recherchen errichtet worden, die sehr nützlich für das Schreiben einer Biographie über Gérard Labrunie sein mögen, aber nichts zum Verständnis von Sylvie beitragen.
Gérard Labrunie hat sein Leben durch Selbstmord beendet, nachdem er mehrmals in Nervenheilanstalten gewesen war, und wir wissen aus einem Brief von ihm, daß er Sylvie in einem Zustand der Übererregung geschrieben hat, mit Bleistift auf lose Blätter. Doch wenn Labrunie geistig verwirrt war, so gilt das keineswegs für Nerval, soll heißen: für jenen Modell-Autor, den wir gerade bei der Lektüre von Sylvie zu erkennen vermögen. Dieser Text erzählt die Geschichte eines Protagonisten, der in die Nähe des Wahnsinns gerät, aber er ist kein Werk eines Geisteskranken: Wer immer ihn auch geschrieben hat (und dieser Wer-immer ist der, den wir von jetzt an
Nerval nennen wollen), er ist ein bewundernswert gut gebauter Text voller Symmetrien, Gegenüberstellungen, innerer Entsprechungen und Verweise.
Wenn Nerval keine der Erzählung äußerliche Figur ist, wie tritt er dann in ihr auf? Vor allem als Erzählstrategie.
Fabel und Handlungsgang
Um Nervals Erzählstrategie zu verstehen und zu begreifen, wie es ihm gelingt, im Leser jenen Nebeleffekt zu erzeugen, von dem ich gesprochen habe, müssen wir uns das Diagramm in Abbildung 1 ansehen. 5 In der Horizontale sind die Kapitel der Erzählung aufgelistet, in der Vertikale links habe ich die zeitliche Abfolge der erzählten Ereignisse rekonstruiert. In der Vertikale haben wir also die Fabel oder Story, in der Horizontale den Handlungsgang oder Plot.
Der Handlungsgang ist die Art und Weise, wie die Erzählung an der Oberfläche organisiert ist und schrittweise dargelegt wird: Ein junger Mann kommt aus einem Theater, beschließt, auf das Schützenfest in Loisy zu gehen, erinnert sich während der Fahrt an eine frühere Fahrt, gelangt zum Fest, sieht seine Jugendliebe Sylvie wieder, verbringt mit ihr einen Tag, kehrt nach Paris zurück, hat ein Abenteuer mit der Schauspielerin und entscheidet sich schließlich (Sylvie ist unterdessen in Dammartin verheiratet),
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