Die Buecher und das Paradies
seine Geschichte zu erzählen. Da
die Handlung an jenem Abend beginnt, an dem der Protagonist aus einem Theater kam (per Übereinkunft die Zeit ti), wird ihr Gang durch die schwarze Linie dargestellt, die sich von jenem Abend über diverse Zeitstufen (Zeiten t 1 - t 14 ) bis zum Ende hinzieht.
In den Ablauf dieser Ereignisse schalten sich jedoch Erinnerungen an frühere Zeiten ein, dargestellt durch senkrechte Pfeile, die auf Zeiten vor t 1 verweisen. Die durchgezogenen Pfeile stellen die Rekonstruktionen des Protagonisten dar, die gestrichelten die Bezugnahmen auf Vergangenes, die sich, manchmal nur flüchtig, in den Gesprächen zwischen den verschiedenen Personen finden. So erinnert sich zum Beispiel der Protagonist zwischen ein Uhr nachts und vier Uhr morgens (in t 1 ) an eine frühere Fahrt nach Loisy, die auf der Ebene des Handlungsgangs drei Kapitel einnimmt, und in den Kapiteln 9 und 10 wird flüchtig an Episoden in Sylvies Kindheit und an eine Rettung aus dem Wasser (in Kindersprache l’ieau genannt) in t 3 erinnert.
Dank dieser Rückerinnerungen läßt sich stückweise die Fabel rekonstruieren, das heißt die zeitliche Abfolge der Ereignisse, von denen die Erzählung handelt: Zuerst war der Protagonist ein kleiner Junge und liebte das Mädchen Sylvie, dann begegnet er bei einem Tanz Adrienne, später kehrt er noch einmal nach Loisy zurück, schließlich macht er sich, inzwischen erwachsen geworden, eines Abends erneut auf die Reise, und so fort.
Der Handlungsgang ist das, was wir vorfinden, was wir beim Lesen vor Augen haben. Die Fabel ist nicht so offenkundig, und gerade beim Versuch, sie zu rekonstruieren, bilden sich einige Nebeleffekte, denn wir können nie genau sagen, von welcher Zeit die Erzählerstimme gerade spricht. Mein Diagramm beansprucht nicht, die Nebeleffekte aufzulösen, sondern zu erklären, wie sie zustande kommen. Und die Fabel wird nur hypothetisch rekonstruiert, in dem Sinne, daß die erinnerten Dinge wahrscheinlich Erlebnissen entsprechen, die der Protagonist zuerst im Alter von zehn bis zwölf Jahren, dann zwischen dem vierzehnten und sechzehnten und schließlich zwischen dem sechzehnten und achtzehnten Lebensjahr gehabt hat (man könnte aber auch eine andere Rechnung aufmachen, der Protagonist könnte auch ein besonders frühreifer oder ein sehr zurückgebliebener Junge gewesen sein).
Daß die Rekonstruktion (die wie gesagt nur wahrscheinlich sein kann) anhand des Textes gemacht werden muß und nicht anhand von Elementen der Biographie Labrunies, lehrt uns das Schicksal einiger Kommentatoren, die sich damit abmühen, den Abend nach dem Theater in das Jahr 1836 zu datieren, weil das im Text evozierte moralische und politische Klima dem jener Jahre zu entsprechen scheint und weil der geschilderte Klub an jenes Café de Valois erinnert, das zusammen mit anderen
Spielklubs gegen Ende 1836 geschlossen wurde. Verkürzt man den Protagonisten auf Labrunie, so ergeben sich einige ziemlich groteske Probleme. Wie alt war der junge Mann dann im Jahre 1836, und wie alt muß er gewesen sein, als er Adrienne bei jenem Tanz auf der Wiese gesehen hatte? Da Labrunie (der 1808 geboren ist) nur bis 1814 (also bis er sechs Jahre alt war) bei seinem Onkel in Mortefontaine gelebt hatte - wann war er dann bei jenem Tanz gewesen? Da er 1820 mit zwölf Jahren ins College Charlemagne kam - war er damals im Sommer nach Loisy zurückgekehrt und hatte Adrienne gesehen? Und war er mithin an dem fraglichen Abend nach dem Theater achtundzwanzig Jahre alt? Und wenn der Besuch bei der Tante in Othys, wie viele annehmen, drei Jahre vorher stattfand - war er dann damals ein Bursche von fünfundzwanzig Jahren gewesen, der sich mit Sylvie als Braut und Bräutigam verkleidete und den die Tante als hübschen Blonden ansprach? Ein Bursche, der bald darauf (1834) dreißigtausend Franken erbte und schon eine Reise nach Italien - eine regelrechte Initiationsreise - gemacht und bereits 1827 Goethes Faust übersetzt hatte? Wie man’s auch dreht und wendet, es paßt nicht zusammen, und darum muß man auf solche Berechnungen nach Art von Einwohnermelderegistern verzichten.
Je-rard und Nerval
Die Erzählung beginnt mit den Worten: »Ich verließ ein Theater« (Je sortais d’un théâtre). Wir haben zwei Entitäten - ein Ich und ein Theater - sowie ein Verb im Imperfekt.
Da das Ich nicht Labrunie sein kann (den wir seinem traurigen Schicksal überlassen haben), wer ist es dann, der hier spricht? In einer Ich-Erzählung
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