Die Buecher und das Paradies
ist derjenige, der Ich sagt, der Protagonist der Erzählung und nicht zwangsläufig der Autor. Infolgedessen wird Sylvie (nachdem Labrunie ausgeschieden ist) von Nerval geschrieben, der ein Ich auftreten läßt, das uns etwas erzählt. Wir haben es also mit der Erzählung einer Erzählung zu tun. Um jedes Mißverständnis auszuräumen, beschließen wir, daß jenes Je, das zu Beginn ein Theater verläßt, eine Figur ist, die wir Je-rard nennen wollen.
Aber wann spricht dieser Jerard? Er spricht in dem, was wir die Zeit der Narration (oder tN) nennen wollen, das heißt in dem Moment, da er seine Vergangenheit zu beschreiben und in Erinnerung zu rufen beginnt, indem er uns sagt, daß er eines Abends (t1, Zeit des Beginns der Handlung) aus einem Theater kam. Da die Erzählung 1853 erschienen ist, könnte man annehmen, daß tN dieses Jahr sei, aber das wäre bloß eine willkürliche Annahme, um einen Zeitpunkt zu haben, von dem aus man zurückrechnen kann. Da wir nicht wissen, wie viele Jahre zwischen t14 und tN liegen (es müssen aber etliche sein, denn in t N hat Sylvie bereits zwei Kinder, die groß genug sind, um Bogenschießen zu können), könnte der Theaterabend auch fünf oder zehn Jahre früher angesetzt werden, wenn man annimmt, daß Jerard und Sylvie in t 3 noch Kinder waren.
Nun erzählt der Jerard, der in tN spricht, von seinem Ich vor etlichen Jahren, das sich seinerseits an Ereignisse aus Jerards Kindheit und frühen Jugend erinnert. Das ist nichts Ungewöhnliches, jedem von uns kann es passieren, daß er sagt: »Als ich [ich 1 , der jetzt spricht] achtzehn Jahre alt war, kam ich [ich 2 , damals] nicht darüber hinweg, daß ich mit sechzehn [ich 3 ] eine unglückliche Liebesgeschichte hatte.« Das heißt aber weder, daß mein Ich 1 noch immer an der pubertären Leidenschaft meines Ich 3 teilhat, noch daß es ihm gelingt, die Melancholie meines Ich 2 zu rechtfertigen. Im besten Fall kann es sich beide Ichs voller Nachsicht und Zärtlichkeit in Erinnerung rufen und entdecken, daß es sich inzwischen sehr verändert hat. In gewissem Sinn ist es dies, was Jerard tut, nur daß er, während er sich als so verschieden je nach der erinnerten Zeit erkennt, nie sagen kann, mit welchem seiner früheren Ichs er sich identifiziert, weshalb er so verwirrt über seine eigene Identität bleibt, daß er sich in der ganzen Erzählung niemals selber nennt - abgesehen vom ersten Absatz des Kapitels 13, wo er ein Billet mit »ein Unbekannter« unterschreibt. Infolgedessen bezeichnet auch das scheinbar so unstrittige Pronomen jedesmal einen anderen.
Doch nicht genug damit, daß es viele Jerards gibt, manchmal ist auch der Sprechende nicht Jerard, sondern Nerval, der sich sozusagen verstohlen in die Erzählung einmischt. Ich habe absichtlich »in die Erzählung« gesagt, nicht in die Fabel oder den Handlungsgang. Fabel und Handlungsgang lassen sich identifizieren, aber nur, weil sie uns durch einen Diskurs mitgeteilt werden. Um zu verdeutlichen, was ich meine: Als ich Sylvie übersetzte, habe ich einen französischen Originaldiskurs in einen italienischen Diskurs transformiert, aber mich dabei bemüht, Fabel und Handlungsgang unverändert zu lassen. Ein Regisseur könnte die Handlung von Sylvie in einen Film »übersetzen« und dem Zuschauer ermöglichen, durch ein Spiel von Auflösungen und Rückblenden die Geschichte zu rekonstruieren (ich will nicht entscheiden, wie erfolgreich). Aber er könnte gewiß nicht den Diskurs übersetzen, wie ich es getan habe, denn er müßte die Wörter in Bilder umsetzen, und es ist ein Unterschied, ob man von einer Frau schreibt, sie sei »bleich wie die Nacht«, oder ob man eine bleiche Frau zeigt.
Nerval zeigt sich nie in der Fabel oder im Handlungsgang, wohl aber im Diskurs, und nicht nur (wie es bei jedem beliebigen Autor vorkommt) als eine bestimmte Art der Wortwahl und der Artikulation von Sätzen und Satzfolgen. Er mischt sich auch heimlich als eine »Stimme« ein, die zu uns spricht, zu uns als seinen Modell-Lesern.
Wer spricht, wenn es im zweiten Absatz von Kapitel 3 heißt: »Sehen wir zu, daß wir wieder festen Boden unter die Füße bekommen!« (Reprenonspied sur le réel)? Jerard zu sich selbst, nachdem er an Adriennes und Aurélies Identität gezweifelt hat? Nerval, der seine Figur zur Ordnung ruft, oder uns Leser, die wir uns haben verzaubern lassen? Etwas später, während Jerard in jener Nacht nach Loisy fährt, heißt es im Text: »Während die Kutsche langsam die Hänge
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