Die Buecher und das Paradies
hinauffährt, wollen wir uns die Erinnerungen an jene Zeit vergegenwärtigen, als ich so oft hierherkam« (Pendant que la voiture monte les côtes, recomposons les souvenirs du temps où j’y venais si souvent). Ist es Jerard in t 3 , der hier spricht, in einer Art von innerem Monolog, der sich im Indikativ Präsens vollzieht? Ist es Jerard in t N , der sagt: »Während der dort die Hänge hinauffährt, verlassen wir ihn für eine Weile und versuchen wir, uns an eine frühere Zeit zu erinnern«? Und ist dieses »versuchen wir uns zu erinnern« eine Aufforderung, die Jerard an sich selber richtet, oder ist es eine, die Nerval an uns richtet, an uns Leser, die damit aufgerufen sind, am Gang seines Schreibprozesses teilzunehmen?
Wer sagt am Anfang von Kapitel 14: »Solcherart sind die Chimären, die uns am Morgen unseres Lebens locken und auf verschlungenen Wegen irreführen« (Telles sont les chimères qui charment et égarent au matin de la vie)? Es könnte Jerard in t N sein, als Komplize und Opfer seiner früheren Illusionen, aber man beachte, daß dieser Bemerkung ein direkter Appell an die Leser folgt (»aber viele Herzen werden mich verstehen«), durch den die Anordnung gerechtfertigt wird, in der die Geschehnisse erzählt worden sind. Der hier spricht, scheint also nicht Jerard zu sein, sondern der Autor des Textes Sylvie, den wir gerade lesen.
Vieles ist über dieses Spiel mit verschiedenen Stimmen geschrieben worden, aber alles bleibt immer unentscheidbar. Nerval selbst ist es, der sich entschieden hat, unentscheidbar zu bleiben, und er sagt es uns nicht nur, um an unserer Verwirrung teilzuhaben (und sie zu verstehen), sondern um sie auf die Spitze zu treiben. Vierzehn Kapitel lang wissen wir nie genau, ob derjenige, der da spricht, etwas erzählt, oder ob er jemanden darstellt, der etwas erzählt - und es ist auch niemals auf Anhieb klar, ob dieser Jemand das, was er da erzählt, gerade erlebt oder sich nur in Erinnerung ruft.
»Verläßt« man ein Theater?
Schon im ersten Satz der Erzählung wird das Theater erwähnt, und dieses Thema wird bis zum Ende nicht mehr verlassen. Nerval war ein Theatermensch, Labrunie hatte sich wirklich in eine Schauspielerin verliebt, Jerard hebt eine Frau, die er nur auf der Bühne gesehen hat, und vor Bühnen treibt er sich fast bis zum Ende der Erzählung herum. Aber das Theater ist in Sylvie auch sonst allgegenwärtig, theatralische Szenen sind der Tanz auf der Wiese mit Adrienne, das Blumenfest in Loisy (und
Theatermaschinerie ist der Korb, aus dem der Schwan aufsteigt), die Maskerade in Hochzeitskleidern, die Jerard und Sylvie im Haus der Tante inszenieren, und die sakrale Aufführung in der Abtei von Chaalis.
Mehr noch, viele haben bemerkt, daß Nerval für seine zentralen Szenen stets eine theatralische Beleuchtung wählt. Die Schauspielerin erscheint zuerst von unten durch das Rampenlicht beleuchtet, dann von oben durch die Strahlen des Lüsters, aber Techniken der Theaterbeleuchtung werden auch beim Tanz auf der Wiese eingesetzt, wenn die letzten Strahlen der Abendsonne durch die Blätter der als Kulissen dienenden Bäume einfallen, und während Adrienne singt, wird sie vom Mond wie von einem Scheinwerfer isoliert (und am Ende tritt sie aus dem, was wir heute einen Lichtkegel nennen würden, mit einem anmutigen Gruß heraus wie eine Schauspielerin, die sich vom Publikum verabschiedet). Am Anfang des vierten Kapitels, während der »Reise nach Kythera« (die überdies verbale Darstellung einer visuellen Darstellung ist, denn Vorbild ist ein Gemälde von Watteau), wird die Szene erneut von oben durch die rotglühenden Strahlen der Abendsonne beleuchtet. Und schließlich, als Jerard am Anfang des achten Kapitels den Tanzplatz von Loisy erreicht, erleben wir ein Meisterwerk der Lichtregie, wenn um die Wipfel der Linden eine »bläuliche Helle« spielt, während die Stämme unten bereits im Dunkeln liegen, bis in diesem Kampf zwischen künstlichen Lichtern und dämmerndem Tag die Szene langsam vom bleichen Morgenlicht erfüllt wird.
Man darf sich also nicht von einer »groben« Lektüre der Erzählung täuschen lassen und behaupten, sie operiere -so wie Jerard hin- und hergerissen sei zwischen dem Traum einer Illusion und dem Streben nach Wirklichkeit -mit einer klaren und harten Gegenüberstellung von
Theater und Wirklichkeit. Denn jedesmal, wenn Jerard ein Theater zu verlassen sucht, betritt er ein anderes. Er beginnt mit einer Feier der Illusion als der einzigen
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