Die Buecher und das Paradies
Wahrheit, an der er sich auch noch im zweiten Kapitel berauscht. Im dritten Kapitel scheint er eine Reise in die Realität anzutreten, denn die Sylvie, die er aufsuchen will, existiert wirklich, aber er findet sie nicht mehr als das Naturkind vor, das er in Erinnerung hat, sondern von Kultur durchdrungen, sie phrasiert beim Singen (und sie benutzt die Hochzeitskleider der Tante, um zu einem Maskenball zu gehen, und sie ist wie eine erfahrene Schauspielerin bereit, Adrienne nachzuahmen und das von ihr in Chaalis gesungene Lied zu singen, angeleitet von Jerard, der den Regisseur spielt). Und wie eine Theaterfigur verhält sich auch Jerard selbst, als er (in Kapitel 8) den letzten Versuch macht, Sylvie zu erobern, indem er sich ihr zu Füßen wirft wie in einer klassischen Tragödie.
So ist das Theater bald Ort der triumphierenden und rettenden Illusion, bald Ort der Enttäuschung und Ernüchterung. Was die Erzählung thematisiert (und daher rührt ein weiterer Nebeleffekt), ist nicht der Gegensatz zwischen Illusion und Wirklichkeit, sondern der Bruch, der durch beide Welten geht und sie miteinander vermischt.
Die Symmetrie des Handlungsgangs
Wenn wir noch einmal zu Abbildung 1 zurückkehren, sehen wir, daß die vierzehn Kapitel, in denen sich der Handlungsgang artikuliert, in zwei Hälften geteilt werden können, eine vorwiegend bei Nacht und eine vorwiegend bei Tag spielende. Die nächtliche Kapitelfolge bezieht sich auf eine schwärmerisch in Erinnerung gerufene und im Traum gesehene Welt; alles wird euphorisch erlebt, im Zauber der Natur, der Raum wird langsam durchmessen und mit einer Fülle an festlichen Details beschrieben. In der zweiten Kapitelfolge findet Jerard dagegen ein Valois, das ganz und gar künstlich ist, aus falschen Ruinen zusammengesetzt, in dem er die Stätten seiner früheren Reise in einer dysphorischen, depressiven Stimmung wiederbesucht, ohne sich bei den Details der Landschaften aufzuhalten und nur mit Blick für die Epiphanien der Ernüchterung.
In Kapitel 5, nach dem Fest, das Gelegenheit für märchenhafte Erscheinungen wie der des auffliegenden Schwans bot, und nach der Begegnung mit einer Sylvie, die jetzt die Anmut der beiden zurückgewiesenen Phantome in sich zu vereinigen scheint, verirrt Jerard sich nachts im Wald (begleitet von einem Mond, der ebenfalls theatralisch die Sandsteinfelsen beleuchtet): Teiche
schimmern fern in der diesigen Ebene, die Luft ist lau und balsamisch, hin und wieder zeichnen sich pittoreske Ruinen am Horizont ab. Friedlich und sanft ist die Nacht, heiter am Morgen das Dorf, jungfräulich die Kammer Sylvies, die mit Spitzenklöppeln hantiert, und eine einzige Blumenpracht ist der Weg zum Haus der Tante, zwischen Margeriten und Butterblumen, Amseln und Meisen, Immergrün und purpurnem Fingerhut, Büschen und Bächen, über welche die beiden Wanderer fröhlich springen. Die Theve wird immer schmaler, je näher man der Quelle kommt, um schließlich auf den Wiesen zu »ruhen« als ein kleiner See zwischen Gladiolen und Schwertlilien. Wenig mehr bleibt zu sagen über dieses Idyll des ländlichen Othys, in dem die Vergangenheit noch den Geruch der guten alten Zeit hat.
Als Jerard dann zum zweiten Mal nach Loisy fährt (Kapitel 8 - 11), trifft er dort morgens früh ein, als das Fest gerade zu Ende geht, die Blumen in Sylvies Haar und an ihrem Mieder hängen welk herab, an den Biegungen der Theve hat sich das Wasser zu kleinen Tümpeln gestaut, auf den Feldern stehen Stroh- und Heudiemen, aber ihr Geruch ist nicht mehr betäubend wie einst. Waren die beiden Wanderer beim ersten Mal über Büsche und Bäche gesprungen, so kommt es ihnen jetzt nicht mehr in den Sinn, querfeldein zu gehen.
Jerard begibt sich, ohne den Weg zu beschreiben, zum Haus seines Onkels und findet es verlassen, den Hund tot und den Garten verwildert. Er macht einen Spaziergang nach Ermenonville, aber seltsamerweise schweigen die Vögel, und die Schrift auf den Wegweisern ist verblaßt. Was ihm auffällt, sind die künstlichen Rekonstruktionen des Tempels der Philosophie, die inzwischen selber Ruinen sind; die Lorbeerbäume sind verschwunden, und auf einem (künstlichen) See voll welker Blüten unterhalb des Turms der Gabrielle »gärt der Schaum, summt das Insekt«. Die Luft ist mefitisch, der Sand staubförmig, alles ist trübsinnig und einsam. Als Jerard in Sylvies Kammer zurückkehrt, haben Kanarienvögel die früheren Grasmücken ersetzt, die Möbel sind modern und gekünstelt,
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