Die Buecher und das Paradies
Gesetz fallen, aber nicht, ob das gut oder schlecht ist, noch welcher Unterschied zwischen dem Fall eines Steins vom Turm zu Pisa und dem Fall eines unglücklich Liebenden von einer sturmumtosten Klippe besteht. Wir könnten sagen, daß narratologische Theorien nicht dazu dienen, die einzelnen Texte besser zu verstehen, sondern die Fabulierfunktion in ihrer Gesamtheit, daß sie also eher wie ein Unterkapitel der Psychologie oder der Ethnologie erscheinen als wie eines der Literaturkritik.
Allerdings müßten wir auch erklären, daß sie darüber hinaus zumindest noch einen pädagogischen Wert haben. Sie stellen das Instrument dar, mit dem derjenige, der Lesen lehrt, sofort die Knotenpunkte erkennt, auf die er die Aufmerksamkeit des Zöglings lenken muß. Mithin würden sie auch dazu dienen, Lesen zu lehren. Aber da man auch diejenigen lehren muß, richtig zu lesen, die nicht mehr Analphabeten sind, dienen sie auch dem reifen Leser, dem Kritiker, dem Schriftsteller dazu, einen sicheren Blick auszubilden.
Man müßte also begreiflich machen, daß, wenn das Wörterbuch nicht genügt, um einen guten Schriftsteller zu machen, gute Schriftsteller trotzdem Wörterbücher benutzen. Ohne daß deshalb der Zingarelli und die Canti von Leopardi zur selben diskursiven Gattung gehörten.
Dennoch sind die Gegner der Textsemiotik nicht imstande, vielleicht auch wegen eines Fehlverhaltens der Semiotiker, die beiden Kritikformen (die der Textsemiotik und die der semiotisch orientierten Textkritik) zu unterscheiden. Und daher entgeht ihnen der Sinn jenes dritten Typs von Kritik, den ich angesprochen habe, des einzigen, der uns helfen kann, die Art der Formbildung eines Textes zu verstehen.
Wenn die Theorie voreingenommen der Lektüre vorausgeht, besteht oft die Neigung, ständig die schon bekannten Instrumente der Untersuchung offenzulegen, um zu zeigen, daß man sie kennt oder daß man so einfallsreich war, sie zu konstruieren - statt kunstvoll die Kunst zu verbergen und das, was der Text am Ende enthüllt, direkt aus dem Text hervorgehen zu lassen, nicht aus den bemühten Essays der theoretischen Metasprache. Es liegt auf der Hand, daß eine solche Vorgehensweise den Leser abschreckt, der ja etwas über den Text wissen wollte und nicht über die Metasprache der Lektüreprotokolle.
Da eine Texttheorie Invarianten skizziert, während eine Kritik des Textes die Variablen herausarbeiten müßte, geschieht es häufig - nachdem man begriffen hat, daß die Welt der Intertextualität aus Invarianten und einfallsreichen Ausnahmen besteht und das Werk ein Wunder an
Erfindungskraft ist, welches die Varianten, mit denen es spielt, zurückhält und verbirgt -, daß die semiotische Untersuchung sich auf die Entdeckung gerade der Invarianten jedes Textes beschränkt und die Erfindungen aus dem Blick verliert.
So kommt es dann zu Untersuchungen über die Struktur der Tarotkarten bei Calvino (als hätte der Autor nicht selber schon alles dargelegt) oder zu Aufsätzen über Leben und Tod im Quadrat, identifiziert in beliebigen Texten, mit dem Ergebnis, daß Hamlet auf Sein oder Nichtsein, auf Nicht-Seinwollen oder Nichtsein-Wollen reduziert wird. Wobei das Vorgehen wohlgemerkt didaktisch glänzend sein und sogar zeigen kann, wie dort, wo wir alle uns täglich zwischen dem Seinwollen und dem Nichtseinwollen abmühen, Shakespeare uns ein ewiges Dilemma auf neue Weise vor Augen führt. Aber es ist gerade dieses »Neue«, bei dem der Diskurs ansetzen muß, und die narratologische Einebnung ist nur Vorspiel zur Entdeckung der künstlerischen Höhen.
Wenn es richtig ist, daß die Literaturtheorie Invarianten in verschiedenen Texten entdeckt, dann darf der Kritiker, wenn er diese Theorie anwendet, sich nicht darauf beschränken, in jedem Text dieselben Invarianten herauszuarbeiten (womit er nicht über die Arbeit des Theoretikers hinausginge), sondern muß allenfalls vom Wissen um die Invarianten ausgehen, um zu sehen, wie der Text sie in Frage stellt, sie gegeneinander ausspielt und das Skelett von Fall zu Fall mit neuen Muskeln bepackt und mit neuer Haut überzieht. Das Drama des Nicht-wissen-Wollens von Ödipus (bei Sophokles) entsteht nicht durch diese Thematik (die sich auch in Boulevardstücken findet, in denen die betrogene Ehefrau zu der schwatzhaften Freundin sagt: »Bitte, sag’s mir nicht«), sondern durch die Strategie, mit der die Ent-hüllung hinausgezögert wird, durch den Spieleinsatz (Vatermord und Inzest gegen banalen Ehebruch) und
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