Die Buecher und das Paradies
produzierte Inszenierung von Hamlet zeigen, wie es das vielverspottete Fernsehen der sechziger Jahre getan hat, wenn es mehr Quote bringt, einen Dorftrottel und einen Fakultätsratstrottel auf gleicher Stufe in einer Talkshow zu präsentieren? Wozu also jahrelang einen Text studieren, wenn man die Ekstase des Erhabenen auch kriegen kann, indem man bloß ein paar Blätter kaut, ohne seine Nächte und Tage damit zu verbringen, die Sublimität eines grünen Blattes in den sublimen Manövern der Photosynthese des Chlorophylls zu entdecken?
Nun, weil ebendies die Botschaft ist, die tagein, tagaus von den Priestern der Post-Antiken Neuen Kritik verkündet wird: Wer sich über die Photosynthese durch Chlorophyll informiert hat, wird sein ganzes weiteres Leben lang unempfänglich für die Schönheit eines grünen Blattes sein, wer etwas über den Blutkreislauf weiß, kann sein Herz nicht mehr in Liebe erbeben lassen. Aber diese Botschaft ist falsch, und das muß immer wieder laut gesagt werden.
Was hier stattfindet, ist eine Feldschlacht zwischen denen, die einen Text lieben, und denen, die es auf die Schnelle haben wollen.
Aber lassen wir eine unverdächtige Autorität sprechen, die so weise und vertrauenswürdig ist, daß wir nicht einmal ihren richtigen Namen kennen - was ihr die Sympathie der inzwischen außer Rand und Band geratenen Jünger der traditionellen, unbekannten und okkulten Weisheit sichern müßte (oder auch die jener raffinierten Verleger, die nur den Autor eines einzigen Buches und vielleicht nicht einmal dieses einen verlegen). Wir kennen ihn als Pseudo-Longinos, erstes Jahrhundert nach Christus, und wir sind geneigt, ihm die Erfindung jenes Begriffs zuzuschreiben, der seit jeher das Banner derer war, die behaupten, über Kunst denke man nicht rational nach, sondern man empfinde unsagbare Gefühle und registriere die daraus folgende Ekstase, und die könne man höchstens mit anderen Worten erzählen, aber niemals erklären.
Ich meine den Begriff des Erhabenen, das in manchen Epochen der Kritik- und Ästhetikgeschichte mit der höchsten Ausformung der Kunst gleichgesetzt worden ist. Und tatsächlich präzisiert Longinos, oder wer immer sich hinter ihm verbirgt, gleich zu Beginn seiner Schrift: »Das Erhabene führt die Zuhörer nicht zur Überzeugung, sondern reißt sie fort zur Ekstase.« Wenn das Erhabene im rechten Moment aus dem Akt des Lesens (oder des Zuhörens) hervorbricht, »zersprengt es alles wie ein Blitz«.
Nur fragt sich Longinos an dieser Stelle (leider der einzigen, die in den Jahrhunderten Schule gemacht hat, und wir sind erst am Ende des ersten Absatzes), ob das Erhabene auch gedacht werden könne, und vermerkt sofort, daß viele seiner Zeitgenossen meinten, das Erhabene sei eine angeborene Fähigkeit, eine Gabe der Natur. Aber Longinos glaubt, daß sich die Gaben der Natur nur bewahren und fruchtbar machen lassen, wenn man mit Methode vorgeht, das heißt mit Kunst, und so macht er sich an sein Unternehmen, das, wie viele vergessen oder nie gewußt haben, eine Definition der semiotischen Strategien ist, die im Leser oder Zuhörer das Gefühl des Erhabenen wecken.
Und kein russischer Formalist, kein Prager oder französischer Strukturalist, kein belgischer Rhetoriker oder deutscher Stilkritiker hat soviel Energie aufgewandt (sei’s auch nur auf wenigen Seiten), um die Strategien des Erhabenen aufzudecken und sie am Werk zu zeigen. Am Werk, soll heißen in ihrer Ausprägung und danach in ihrer Verteilung über die lineare Oberfläche des Textes, wo sie vor den Augen des Lesers die verborgenen Stilmanöver aufscheinen lassen.
So zählt Longinos, sei er auch pseudo, die fünf Quellen des Erhabenen auf, als da sind die Fähigkeit, edle Gedanken zu fassen, die Fähigkeit, ein starkes, begeistertes Pathos zu manifestieren und zu wecken, die Kunst, die passenden rhetorischen Figuren zu bilden, die Erfindungskraft beim Erzeugen einer edlen Ausdrucksweise durch die Wahl der Worte und den korrekten Gehrauch der Figuren und schließlich die allgemeine Anlage des Textes, aus der ein würdevoll-hoher Stil resultiert. Denn vor allem weiß Longinos im Gegensatz zu jenen, die zu seiner Zeit die semiotische Leidenschaft des Erhabenen mit der physischen Erfahrung des Orgasmus gleichsetzten: »Es gibt Arten von Pathos, die durchaus nicht erhaben, sondern niedrig sind, wie das Jammern, die Verzagtheit und die Ängste, und umgekehrt gibt es viele Erscheinungsformen des Erhabenen ohne Pathos.«
Unter
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