Die Buecher und das Paradies
die diskursive Oberfläche.
Last but not least, die Textsemiotik unterscheidet oft nicht klar genug zwischen Manier und Stil in dem Sinne, wie Hegel das getan hat: erstere als wiederkehrende Obsession des Autors, der sich ständig selbst imitiert, letzterer als Fähigkeit, sich immer wieder selbst zu überwinden. Dabei wäre gerade eine Textsemiotik als einzige in der Lage, diese Unterschiede deutlich zu machen.
Doch wenn man der Textsemiotik so viele Exzesse vorwerfen kann, was ist dann über die Defekte ihrer Gegner zu sagen? Gewiß ist es hier nicht unsere Sache, uns über die Orgasmen zu beklagen, an denen uns die artifices additi artifici teilhaben lassen, die uns in jedem Werk das Tagebuch ihrer Ent- und Verzückungen als Leser vorbeten, so daß eine dem Autor A gewidmete Seite, die versehentlich in ein dem Autor B gewidmetes Buch gerutscht ist, weder vom Korrektor noch vom Rezensenten bemerkt wird.
Tatsächlich könnten wir den im Orgasmus schwelgenden Kritikern ihr Vergnügen lassen, das niemandem weh tut und nach einer Weile zeigt, wie wenig sie, die in Worten so orgiastisch sind, tatsächlich Libertinage treiben, ja daß sie geradezu einen Horror vor dem Anderssein haben, machen sie doch bei jeder ihrer kritischen Umarmungen letztlich nichts anderes als Liebe mit sich selbst. Und wir könnten auch denen, die Sozialkritik oder Geschichte der literarischen Institutionen oder Kritik der Sitten und Unsitten treiben wollen, ihre Tätigkeit lassen, die ja oft nützlich und wohlverdient ist.
Nur hat sich leider in den letzten zehn Jahren hierzulande eine Art neuer Wettsport entwickelt, bei dem es darum geht, wer die heftigsten Bannflüche gegen die sogenannten formali sti schstrukturali sti sch-semioti schen
Theorien schleudert, als wären sie es, die schuld sind -und jemand hat das sogar behauptet - an der Korruption von Tangentopolis, an der Mafia, am Zusammenbruch der Masochistischen Linken und am Aufstieg der Triumphierenden Rechten.
Dies könnte ernstlich unangenehme Folgen haben, wenn und insofern es diesen Anklagen gelingt, die Jugendlichen und ihre jungen Lehrer in die Irre zu führen und sie von Wegen abzubringen, die wir in den letzten zwanzig Jahren glücklich eingeschlagen hatten.
Wer in Paris das Erdgeschoß der Librairie des Presses Universitaires de France betritt, findet im zweiten Regal rechts Dutzende und Aberdutzende von Lehrbüchern für alle Schulstufen über die Anfertigung einer analyse de texte. Selbst die Pioniere des Strukturalismus der sechziger Jahre waren gezwungen, ich sage nicht die russischen Formalisten oder die Prager Schule wiederzuentdecken, aber die Legion guter empirischer angelsächsischer Kritiker und Theoretiker, die schon vor Jahrzehnten (wie Kenneth Burke) die Strategien des Blickwinkels, der narrativen Montage, der Aktanten oder Subjekte der Handlung von Grund auf analysiert haben.
Für meine Generation (die erste nach Croce) waren die literaturtheoretischen und textkritischen Schriften von René Wellek und Austin Warren, von Dámaso Alonso oder Leo Spitzer Offenbarungen. Wir fingen an zu begreifen, daß Lesen nicht ein Ausflug ins Grüne ist, bei dem man fast zufällig rechts oder links eine poetische Blume pflückt, hier einen Hahnenfuß und dort einen Weißdorn, versteckt im Dünger der strukturellen Füll- und
Flickwörter, sondern daß man den Text als etwas Ganzes nehmen muß, das auf verschiedenen Stufen von Leben erfüllt ist. Auch unser offizielles Bildungswesen schien das begriffen zu haben.
Warum ist man heute dabei, all das wieder zu vergessen, warum wird in den Literaturseminaren heute gelehrt, man brauche kein solides theoretisches Rüstzeug und keine Lektüre auf allen Stufen, um über einen Text zu sprechen? Das lange tagtägliche Bemühen eines so gewissenhaften Kritikers wie Gianfranco Contini sei eher schädlich, das einzige heute (wieder!) zu feiernde Kritikerideal sei das eines freien Geistes, der frei auf die je und je vom Text gebotenen Reize reagiere!
Ich persönlich sehe in dieser Tendenz einen Ausfluß anderer Kommunikationsbereiche, eine Anpassung der Kritik an die Rhythmen und an die Investitionsrate anderer Aktivitäten, die sich als gewinnträchtig erwiesen haben. Warum verkauft sich die Rezension, die dazu zwingt, das besprochene Buch zu lesen, auf den Kulturseiten unserer Zeitungen weniger gut als der Kommentar zu einem Interview, das der Autor einer anderen Zeitung gegeben hat? Wozu soll man im Fernsehen eine eigens
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