Die Buecher und das Paradies
Glück sind die Theoretiker gerade da, wo sie uns nicht zu sagen vermögen, was eine Hypotypose ist, fast immer in der Lage, sehr schöne Beispiele für sie zu geben. Die ersten drei stammen von Quintilian (Institutio Oratoria, VIII, 3, 63 - 69). Das erste verweist auf einen Vers der Aeneis (V, 426), wo zwei Faustkämpfer gegeneinander antreten und »sich beide sogleich auf die Zehenspitzen recken«. Das zweite zitiert die Verrinen (5, 33, 86): »Am Ufer stand, in Sandalen, mit einem roten Mantel und einer bis zu den Füßen reichenden Tunika, auf eine Dirne gestützt, der Prätor des römischen Volkes«, und Quintilian fragt sich, ob jemand so phantasielos sein kann, den Ort und die Personen nicht vor sich zu sehen, und sogar mehr, als tatsächlich gesagt wird, nämlich auch die Gesichter und die Augen und die obszönen Liebkosungen und das Unbehagen der Umstehenden. Das dritte Beispiel, ebenfalls von Cicero, ein Abschnitt aus der Rede für Q. Gallius, bezieht sich auf ein ausschweifendes Gastmahl: »Mir schien, als sähe ich Leute ein- und ausgehen, einige torkelten betrunken, andere gähnten wegen des Rausches vom vorigen Tage. Der Boden war schmutzig, besudelt mit Wein, übersät mit verwelkten Blumenkränzen und Fischgräten.«
Ein viertes Beispiel lautet: »Gewiß verbindet, wer sagt, daß eine Stadt eingenommen worden ist, damit die Vorstellung allen Unglücks, das eine solche Heimsuchung mit sich zu bringen pflegt, aber eine so knappe Auskunft weckt keine tiefe Rührung. Wenn jedoch die in einem einzigen Wort enthaltenen Vorstellungen sich entfalten können, dann sieht man die Flammen in Häusern und Tempeln lodern und hört das Krachen der zusammenstürzenden Häuser und den verworrenen gleichförmigen Lärm, den unterschiedliche Laute erzeugen, und die Ungewisse Flucht der einen, die letzten verzweifelten Umarmungen der anderen, das Geschrei der Kinder und der Frauen, die Alten, die unglücklicherweise bis zu diesem Tag am Leben geblieben sind; und weiter die Zerstörung der profanen und heiligen Dinge, das Getümmel derer, die ihre Beute forttragen und zurückkehren, um sich noch mehr zu holen, die Gefangenen in ihren Ketten, jeder getrieben von seinem Wärter, die Mutter, die ihr Kind festzuhalten sucht, und die Rauferei unter den Siegern .«
Desgleichen zitiert Dumarsais als Beispiel für Hypoty-
pose diese Stelle aus Racines Phèdre, V, 6:
Cependant sur le dos de la plaine liquide S’élève à gros bouillons une montagne humide;
L’onde s’approche, se brise, et vomit à nos yeux,
Parmi les flots d’écume, un monstre furieux;
Son front large est armé de cornes menaçantes Tout son corps est couvert d’écailles jaunissantes;
Indomptable taureau, dragon impétueux,
Sa croupe se recourbe en replis tortueux ...
Indem erhebt sich aus der flüss’gen Ebne Mit großem Wallen hoch ein Wasserberg,
Die Woge naht sich, öffnet sich und speit Vor unsern Augen, unter Fluten Schaum’s,
Ein wütend Untier aus. Furchtbare Hörner Bewaffnen seine breite Stirne, ganz Bedeckt mit gelben Schuppen ist sein Leib;
Ein grimm’ger Stier, ein wilder Drache ist’s,
In Schlangenwindungen krümmt sich sein Rücken .. , 3
Wenn wir uns die vier Beispiele von Quintilian näher ansehen, stellen wir fest, daß im ersten nur eine Körperhaltung genannt wird (durch die der Leser sozusagen eingeladen wird, sich die Szene vorzustellen); im zweiten wird eine Pose mit einiger Bosheit beschrieben - die Feierlichkeit des roten Mantels wird in die Nähe der Vulgarität jener Dirne (muliercula) gerückt, so daß der Zuhörer einen schrillen Ton hört; im dritten ist das, was die Beschreibung interessant macht, nicht nur die größere Präzision und Länge, sondern auch die Widerwärtigkeit der beschriebenen Dinge (vergessen wir nicht, daß in der antiken Mnemotechnik ein monströses oder schreckliches Bild mehr Chancen hatte, im Gedächtnis haften zu bleiben und folglich im rechten Moment erinnert zu werden). Im vierten Fall liegt kein eigentliches Beispiel vor, sondern es wird angedeutet, wie die breite und erregte Beschreibung einer langen Handlungssequenz aussehen könnte, und ich spreche von dem dramatischen Ablauf der Handlungen hier ganz absichtlich wie von einer filmischen Sequenz.
Im Falle des Zitats von Racine haben wir etwas noch Komplexeres, nämlich die Beschreibung verschiedener Phasen eines Naturereignisses, aber mit fortgesetzter Zoomorphisierung jeder der einander folgenden Wellen. Man kann sich nur
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