Die Buecher und das Paradies
und die ich aus Gründen, auf die ich später zurückkommen werde, lieber als Räumlichkeit des Ausdrucks und Räumlichkeit des Inhalts ansprechen würde. Es gibt Bilder, die eine Art Erstarrung des Augenblicks suggerieren, wie jene Verkündigung von Lorenzo Lotto, in der die überraschte Geste Marias in dem Augenblick erfaßt worden ist, in dem eine Katze durchs Zimmer springt, oder ein Schnitt von Lucio Fontana gleichsam als Momentaufnahme der blitzartigen Bewegung, mit der die Klinge durch die gespannte Leinwand gefahren ist.
Genau bedacht liegt jedoch nichts Einzigartiges in der Tatsache, daß ein begrenztes Stück Raum, das von sich aus zeitlos ist, einen kurzen Moment ausdrückt. Das Problem entsteht, wenn man sich fragt, wie durch Fragmente von Raum eine lange Zeit ausgedrückt wird. Zunächst entdeckt man, daß man im allgemeinen, um viel
Zeit auszudrücken, viel Raum benötigt. Es gibt Bildergeschichten, die eine sogar jahrhundertelange Folge von Ereignissen durch eine Reihe von Einzelbildern darstellen, wie es bei den Comics der Fall ist; andere durch visuelle Wiederholung derselben Figuren in verschiedenen Aufmachungen, Situationen und Lebensaltern. Dies alles sind Fälle, in denen viel Raum aufgewandt wird, um viel Zeit darzustellen, und zwar nicht nur viel bezeichnender Raum, sondern auch viel von jenem Raum (nicht semantischer, sondern pragmatischer Art), den der Betrachter abschreiten muß, um das Kunstwerk zu genießen. Um das Vergehen der Zeit im Zyklus der Legende vom Heiligen Kreuz in Arezzo zu erfassen, muß man sich bewegen, und das nicht nur mit dem Blick, sondern auch mit den Füßen, und noch mehr muß man wandern, wenn man die ganze Geschichte verfolgen will, die auf dem Wandteppich von Bayeux erzählt wird. Es gibt Kunstwerke, die eine lange Zeit der Umkreisung verlangen und zugleich eine lange Aufmerksamkeit für ihre kleinsten Einzelheiten, wie eine gotische Kathedrale, zumal eine wie in Chartres. Eine Skulptur, die sich als kleiner Elfenbeinkubus präsentiert, kann in einem kurzen Moment der Betrachtung erlebt werden (auch wenn ich glaube, daß sie berührt und gedreht werden muß, damit man alle Seiten erfaßt), aber ein Kubus, bei dem jede Seite eine Million Quadratkilometer groß ist, muß umkreist werden, vielleicht mit dem Raumschiff aus Odyssee im Weltraum, sonst würde man seine megagalaktische Erhabenheit nicht erfassen.
Wenn man also viel Raum benötigt, um viel Zeit darzustellen, wird man dann nicht (in den Künsten der Zeit) auch viel Zeit benötigen, um viel Raum darzustellen? Schränken wir das Thema zunächst einmal ein. Stellen wir uns zum Beispiel nicht die Frage, ob die Musik den Raum ausdrücken kann, auch wenn wir sie instinktiv bejahen würden. Auch wer nicht um jeden Preis deskriptivistisch sein will, kann schwer leugnen, daß die Symphonie aus der Neuen Welt von Dvorak oder die Moldau von Smetana weite Räume suggerieren, so daß der Dirigent sich häufig dazu verleitet sieht, mit weit ausgreifenden weichen Bewegungen zu dirigieren, als wollte er ein Fließen ausdrücken und könnte mit ihrer Länge zu dieser Wirkung beitragen. Sicher legen manche Arten von Musik die Pirouette nahe, andere den Sprung, wieder andere das Schreiten, und folglich gibt es rhythmische Strukturen, die körperliche Bewegungen herbeiführen oder abbilden, mit denen wir uns im Raum bewegen - andernfalls gäbe es keinen Tanz.
Aber beschränken wir uns auf die verbale Rede. Nehmen wir die Unterscheidung zwischen Raum des Ausdrucks und Raum des Inhalts wieder auf und heben wir hervor, daß wir uns weniger für die Form des Ausdrucks als vielmehr für seine Substanz werden interessieren müssen.
Wir haben es schon gesehen, als wir uns mit den Beispielen von Quintilian befaßten: zu sagen, daß zwei Faustkämpfer sich auf die Zehenspitzen recken, scheint uns keine große Hypotypose zu sein, während uns die detaillierte Beschreibung der Eroberung und Plünderung einer Stadt, Ereignis für Ereignis und Moment für Moment, sehr viel anschaulicher dünkt. Aber eine solche Beschreibung erfordert eine Menge Seiten (oder wenigstens Verse).
Daher würde ich, wenn ich von räumlichem Ausdruck spreche, nicht an jene Fälle denken, in denen auf der Ausdrucksebene ein Raum benannt wird, der auf der Inhaltsebene nicht mehr Raum, sondern etwas anderes ist, womöglich gar ein Verlauf der Zeit, zum Beispiel bei
Ausdrücken wie die Linie der Partei, eine häßliche Perspektive, in der Mitte der Nacht, er
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