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Die Buecher und das Paradies

Titel: Die Buecher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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verlangsamt und zerstört das Hervorbrechen des Erhabenen. 3
    Auch ohne Nachprüfung am griechischen Original ist der Sinn dieser Analyse klar. Longinus betreibt Textsemiotik. Und er betreibt Textkritik - jedenfalls nach den Maßstäben seiner Zeit - und erklärt uns, warum wir etwas erhaben finden und wie wenig man nur am Textkörper zu verändern braucht, um die ganze Wirkung zu zerstören. Mithin wußte man schon seit den fernsten Ursprüngen (denn wenn wir noch weiter zurückgehen, zur Poetik des Aristoteles, finden wir nicht weniger), wie man einen Text liest und daß man keine Angst zu haben braucht vor einem dose reading und vor einer manchmal terroristischen Metasprache (denn für seine Epoche war die des Longinos nicht weniger terroristisch als die, die heutzutage so viele unserer Zeitgenossen erschreckt).
    Mithin geht es darum, den Ursprüngen treu zu bleiben, sowohl denen des Stilbegriffs als auch denen des Begriffs einer wahren Kritik und einer Analyse der Textstrategien. Was die beste Stilsemiotik getan hat und tut, ist das, was bereits unsere großen Vorfahren taten. Unsere einzige Pflicht besteht darin, durch ernsthafte und geduldige Arbeit, ohne irgendeiner Erpressung nachzugeben, unsere kleinen Zeitgenossen zu beschämen.
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    Schlußbeitrag zu dem Kongreß »Lo Stile - Gli stili« der Associazione Italiana di Studi Semiotici (Feltre, September 1995). Veröffentlicht in Carte semiotiche, 3. September 1996.
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    Proust, Werke I, 3, Suhrkamp 1992, S. 426 f., dt. von Henriette Beese.
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    Peri hypsous, 39, 4; vgl. die Ausgabe von Reinhard Brandt: Pseudo-Longinus, Über das Erhabene, griechisch und deutsch, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1966, S. 105 ff. (A. d. Ü.).

Les sémaphores sous la pluie'
    Wie stellt man den Raum mit Worten dar? Das Problem hat eine Geschichte, und die Tradition rubriziert die Techniken der verbalen Darstellung des Raumes (wie aller anderen visuellen Erfahrungen) unter den Namen der Hypotypose oder evidentia, die bisweilen gleichgesetzt, bisweilen als verwandt beschrieben wird mit der illustratio, der demonstratio, der ekphrasis oder descriptio, der enärgeia usw.
    Unglücklicherweise sind jedoch alle Definitionen der Hypotypose kreisförmig, das heißt, sie definieren als Hypotypose jene Redefigur, durch die visuelle Erfahrungen mit Hilfe verbaler Mittel dargestellt oder evoziert werden. Siehe die Definitionen der großen antiken Rhetoriker, von Hermogenes bis Longinos, von Cicero bis Quintilian, die ich dem Lausberg entnehme, ohne mich weiter um die Vaterschaften zu kümmern, scheint doch ohnehin eine die andere zu wiederholen: (a) credibilis rerum imago quae velut in rem praesentem perducere audientes videtur, (b) proposita forma rerum ita expressa verbis ut cerni potius videatur quam audiri, (c) quae tam dicere videtur quam ostendere, praesentans oculis quod demonstrat, (d) quasi gestarum sub oculis inductio 1 - und so weiter.
    Vor mir habe ich (und zwar diesmal im Wortsinn »vor Augen«) den Text über die Hypotypose, den Hermann Parret im vergangenen Juli auf dem internationalen Kolloquium in Cerisy vorgetragen hat 2 , und auch hier scheint mir die Expedition ins Gestrüpp der neueren Theoretiker keine zufriedenstellenden Resultate erbracht zu haben. Dumarsais erinnert daran, daß Hypotypose Bild oder Gemälde bedeutet und immer dann vorliegt, »wenn in Beschreibungen die Dinge, von denen die Rede ist, so ausgemalt werden, daß es scheint, als ob das, was man sagt, tatsächlich vor Augen läge; man zeigt in gewisser Weise das, was man nur erzählt ...« (Des tropes ou des différents sens ..., 1730), und für andere Theoretiker läßt diese Stilfigur die Realität »mit Händen greifen« - eine schöne Metapher, gewiß, aber eine Figur zu benutzen, um eine andere zu definieren, ist ein bißchen wenig. Zumal es ja, wie schon Aristoteles weiß, eine rhetorische Figur gibt, die einem die Dinge fast unter die Nase hält, nämlich die Metapher - und niemand wird behaupten wollen, daß die Metapher dasselbe sei wie die Hypotypose. Die Wahrheit ist: wenn die rhetorischen Figuren der Rede Glanz, Lebendigkeit und Überzeugungskraft geben sollen und wenn man mit Horaz zugeben muß, daß die Dichtung ut pictura ist, dann überraschen alle Redefiguren den Leser oder Zuhörer damit, daß sie ihm in gewisser Weise etwas vor Augen oder unter die Nase halten. Wenn das aber so ist und diese Metapher also wirklich zu allgemein wäre, was wird dann aus der Hypotypose?
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