Die Bücher vom Heiligen Gral. Der Erzfeind
glaube, ich weiß, was einen Vexille nach Astarac lockt, aber hier ist nichts für dich, Thomas, gar nichts. Die Kiste war leer.» Er brachte die Kiste zurück in die Schatzkammer, stieg mit Thomas die Treppe hinauf und verschloss die kleine Tür wieder. Dann bedeutete er Thomas, sich gemeinsam mit ihm auf den steinernen Sims zu setzen, der sich rund um das ansonsten leere Mittelschiff zog. «Die Kiste war leer», wiederholte Planchard. «Ich weiß, du glaubst, dass sie einst gefüllt war, und ich vermute, du bist gekommen, um das zu finden, was dort hineingehört.»
Thomas nickte. Er sah zu, wie zwei Novizen die Kirche fegten. Ihre Besen aus Birkenreisig scharrten leise über die großen Steinplatten. «Ich bin auch gekommen, um den Mann zu finden, der meinen Vater ermordet hat.»
«Du weißt, wer es war?»
«Mein Vetter. Guy Vexille. Wie ich gehört habe, nennt er sich Graf von Astarac.»
«Und du glaubst, er ist hier?», fragte Planchard überrascht. «Ich habe noch nie von diesem Mann gehört.»
«Ich glaube, er wird kommen, wenn er erfährt, dass ich hier bin.»
«Und dann willst du ihn töten?»
«Vor allem will ich wissen, wie er auf den Gedanken gekommen ist, dass mein Vater im Besitz des Grals war», sagte Thomas.
«Stimmt es denn?»
«Ich weiß es nicht», erwiderte Thomas wahrheitsgemäß. «Ich vermute, er glaubte, dass es so war. Aber manchmal war er auch einfach verrückt.»
«Verrückt?», hakte Planchard sanft nach.
«Er hat Gott nicht verehrt, sondern mit Ihm gerungen. Er wetterte gegen Gott, schrie, flehte und weinte. Die meisten Dinge sah er sehr deutlich, aber Gott verwirrte ihn.»
«Und wie ist es mit dir?»
«Ich bin Bogenschütze», sagte Thomas. «Ich muss die Dinge sehr deutlich sehen.»
«Dein Vater hat Gott die Tür geöffnet und war geblendet, während du es vorziehst, die Tür geschlossen zu halten?»
«Mag sein», sagte Thomas abwehrend.
«Was hoffst du denn mit dem Gral zu erreichen, wenn du ihn findest?»
«Frieden. Und Gerechtigkeit.» Es war keine wohlüberlegte Antwort, sondern eher ein Versuch, Planchards Frage abzuwimmeln.
«Ein Soldat, der den Frieden sucht», sagte der Abbé amüsiert. «Du bist voller Widersprüche. Du hast also getötet, gestohlen und gebrandschatzt, um Frieden zu schaffen.» Er hob die Hand, um Thomas’ Protest abzuwehren. «Ich muss dir sagen, Thomas, meiner Ansicht nach wäre es besser, wenn der Gral nicht gefunden würde. Falls ich ihn fände, würde ich ihn in die Tiefen des Meeres schleudern, dorthin, wo die Ungeheuer hausen, und niemandem etwas davon sagen. Doch falls jemand anders ihn findet, wird er nur zu einer weiteren Trophäe, um die machtgierige Männer Krieg führen werden. Könige werden darum kämpfen, Männer wie du werden dafür sterben, Kirchen werden sich daran bereichern, und es wird niemals Frieden geben. Aber wer weiß, vielleicht hast du ja recht? Vielleicht wird der Gral uns ein Zeitalter der Fülle und des Friedens bescheren, und ich bete dafür, dass es so kommt. Doch der Fund der Dornenkrone hat keine solchen Wohltaten gebracht, und warum sollte der Gral mächtiger sein als die Dornenkrone unseres Herrn? In Flandern und England gibt es Schalen mit Seinem Blut, doch auch sie bringen keinen Frieden. Ist der Gral kostbarer als Sein Blut?»
«Manche Leute glauben das», gab Thomas zu.
«Und diese Leute werden töten, um in seinen Besitz zu kommen», sagte Planchard. «Sie werden ihre Gegner zerfleischen wie ein Wolf die Lämmer, und du erzählst mir, der Gral wird Frieden bringen?» Er seufzte. «Dennoch – vielleicht hast du recht. Vielleicht ist es an der Zeit, dass der Gral gefunden wird. Wir können ein Wunder gebrauchen.»
«Um Frieden zu erlangen?»
Planchard schüttelte den Kopf. Mit ernstem, traurigem Gesicht starrte er lange zu den beiden Novizen hinüber. «Ich habe es noch niemandem gesagt, Thomas», brach er schließlich sein Schweigen, «und es wäre klug, wenn du es nicht weitererzählen würdest. Bald werden es alle wissen, aber dann ist es ohnehin zu spät. Vor einigen Tagen habe ich einen Brief von einer Zisterze in der Lombardei bekommen. Unsere Welt wird sich von Grund auf verändern.»
«Wegen des Grals?»
«Ich wünschte, es wäre so. Nein, weil im Osten eine Seuche wütet. Eine furchtbare Seuche, eine Pestilenz, die sich ausbreitet wie Rauch, die jeden tötet, mit dem sie in Berührung kommt, und niemanden verschont. Es ist eine Plage, Thomas, die geschickt worden ist, uns zu peinigen.»
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