Die Bücher vom Heiligen Gral. Der Erzfeind
Gaspard.
«Das war mir nicht entgangen», bemerkte der Kardinal. Er brachte den prachtvollen Wachskelch zum Tisch zurück und stellte ihn vorsichtig ab. «Wo ist das Glas?»
«Hier, Euer Eminenz.» Gaspard öffnete eine Schatulle und nahm ein Trinkgefäß heraus, das er dem Kardinal reichte. Das Gefäß bestand aus dickem grünlichem Glas, das an einigen Stellen trübe war und an anderen winzige Luftbläschen aufwies. Der Kardinal nahm an, dass es römischer Herkunft war. Sicher war er nicht, aber es sah sehr alt und ein wenig derb aus, und das war für seine Zwecke genau richtig. Der Kelch, aus dem Jesus seinen letzten Wein getrunken hatte, passte gewiss eher auf den Tisch eines Bauern als auf die Festtafel eines Edelmanns. Der Kardinal hatte das Glas in einem Laden in Paris entdeckt, es für ein paar Kupfermünzen erstanden und Gaspard angewiesen, den ohnehin schiefen Fuß abzutrennen, was dieser mit solchem Geschick getan hatte, dass der Kardinal nicht einmal mehr die Ansatzstelle sehen konnte. Nun setzte er den Glaskelch mit größter Vorsicht in das filigrane Wachsgebilde. Gaspard hielt den Atem an, voller Angst, dass der Kardinal eines der winzigen Blätter abbrechen könnte, doch der Kelch glitt sanft hinein und passte sich perfekt der Wölbung an.
Der Gral. Der Kardinal betrachtete den Glaskelch und stellte sich vor, wie er, von einem zierlichen Spitzenwerk aus feinstem Gold umschlossen und von hohen weißen Kerzen beschienen, auf einem Altar stand. Ein Chor heller Jungenstimmen würde erklingen, der Duft von Weihrauch würde die Luft erfüllen, und Könige und Kaiser, Prinzen und Herzöge, Edelmänner und Ritter würden davor niederknien.
Louis Bessières, Kardinalerzbischof von Livorno, wollte den Gral, und einige Monate zuvor war ein Gerücht aus Südfrankreich, dem Land der verbrannten Ketzer, zu ihm vorgedrungen, dass der Gral tatsächlich existierte. Zwei Abkömmlinge der Familie Vexille, ein Franzose und ein englischer Bogenschütze, suchten ebenfalls danach, doch niemand, so dachte der Kardinal, wollte ihn so sehr wie er. Und niemand verdiente ihn so sehr wie er. Wenn er diese kostbarste aller Reliquien fand, würde er so unermessliche Macht besitzen, dass Könige und der Papst ihn um seinen Segen bitten würden. Und wenn Clemens, der derzeitige Papst, starb, würde er, Louis Bessières, seinen Thron einnehmen – sofern er den Gral besaß. Doch eines Tages, als der Kardinal gedankenverloren auf die bunten Fenster seiner Privatkapelle gestarrt hatte, war ihm eine Erleuchtung gekommen. Der Gral selbst war gar nicht notwendig. Ob er existierte oder nicht, war belanglos; was zählte, war, dass die gesamte Christenheit daran glaubte, dass es ihn gab. Die Menschen wollten den Gral, und es konnte irgendein beliebiges Gefäß sein, solange sie nur überzeugt waren, dass es der echte, heilige, der einzig wahre Gral war. Und das war der Grund, weshalb Gaspard in diesem Keller hauste und weshalb der junge Goldschmied sterben musste, denn niemand außer dem Kardinal und seinem Bruder durfte jemals erfahren, was in dem abgelegenen Turm auf dem Hügel bei Melun vor sich ging. «Und jetzt», sagte der Kardinal und nahm vorsichtig das Glas aus seinem filigranen Gefäß, «musst du das einfache Wachs in himmlisches Gold verwandeln.»
«Das wird schwer, Euer Eminenz.»
«Natürlich wird es schwer, aber ich werde für dich beten. Und vergiss nicht, deine Freiheit hängt vom Erfolg dieses Unterfangens ab.» Der Kardinal sah den Zweifel auf Gaspards Gesicht. «Du hast das Kruzifix erschaffen», sagte er und hob das kunstvolle Schmuckstück hoch, «warum also sollte es dir mit dem Kelch nicht gelingen?»
«Er ist so feingliedrig», sagte Gaspard. «Und wenn ich das Gold gieße und das Wachs schmilzt nicht, war alles umsonst.»
«Dann wirst du von vorn beginnen», sagte der Kardinal. «Und dank deiner Erfahrung und mit Gottes Hilfe wirst du den Weg der Wahrheit finden.»
«So etwas ist noch nie zuvor gemacht worden, jedenfalls nicht mit etwas so Filigranem.»
«Zeig mir, wie es geht», befahl der Kardinal, und Gaspard erklärte ihm, dass er den Wachskelch mit der stinkenden braunen Paste bestreichen würde, vor der der Kardinal zurückgewichen war. Diese Paste bestand aus Wasser, gebranntem und zu Pulver zerstoßenem Ochsenhorn und Kuhmist, und sobald diese Schicht getrocknet war, würde das Ganze in weichen Ton gebettet, der vorsichtig angedrückt werden musste, um das Wachs vollständig zu umschließen, ohne es
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