Die Bücher von Umber, Band 3: Das Ende der Zeit
eigenartigen Material bestand. Es sah wie flüssiges Glas aus, das ein zerrissenes Stück Papier umschloss.
Umber hielt den Gegenstand in die Höhe und betrachtete ihn staunend. »Sieh mal an. So etwas habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen«, sagte er. Er lächelte Hap zu und hielt ihm den Gegenstand vor die Nase. »Das ist eine Tasche, die aus einem Material besteht, das wir Plastik nannten. Man kann sie wasserdicht verschlieÃen, um den Inhalt zu schützen. In diesem Fall â¦Â« Umber drehte die Tasche um und zeigte Hap die andere Seite des Papierfetzens: »Eine Fotografie.«
Fotografie , dachte Hap. Er hatte zuvor schon Fotografien gesehen, und zwar auf Umbers bemerkenswertem Computer. Es handelte sich um ein perfekt wirklichkeitsgetreues Abbild â nicht um das Gemälde eines Künstlers, sondern um den Gegenstand selbst, der von einer Technologie eingefangen und wiedergegeben wurde, die es in dieser Welt nicht gab. Diese Fotografie zeigte das Gesicht und die Schultern einer Frau. Hap starrte das Bild aus allernächster Nähe an. Die Frau war schön, doch unter ihrer Schönheit erahnte Hap eine schmerzvolle Traurigkeit.
»Ja ⦠eine Fotografie«, sagte Willy. »Von ihr. Der Einzigen, die mir etwas bedeutet hat.«
Umber runzelte die Stirn. Er drehte das Bild um, damit er es sich noch einmal ansehen konnte. » Diese Frau? Du hast diese Frau gekannt?«
Willy schüttelte schwach den Kopf. »Ich habe sie nie kennengelernt, nur von ihr gehört. Danach, als es zu spät war, um sie zu retten. Das ist das Schöne an deiner Welt, Umber ⦠Erinnerungen existieren dort für immer, sie werden in Fotografien und Filmen, Tageszeitungen und Illustrierten erhalten ⦠und in Computern. Ich habe sie nie getroffen, aber ich habe sie trotzdem lieben gelernt. Umber ⦠weiÃt du, wer sie war?«
Umber warf Hap einen Blick zu. Seine Miene signalisierte deutlich: Das ist verrückt . »Natürlich wusste ich von ihr. Sie war berühmt. Jeder kannte sie. Und viele fühlten dasselbe wie du. Sie liebten sie aus der Ferne. Und bemitleideten sie.«
»Ihr Leben ⦠ihr Tod ⦠was für eine Tragödie.«
»Ja, das stimmt. Aber was hat sie mit uns zu tun, Willy?«
Willy hob die Hand und tastete in der Luft herum. Umber reichte ihm seine Hand, und Willy ergriff sie. »Darum bitte ich«, sagte Willy. »Sonst nichts. Wenn der Junge deine Welt rettet ⦠rette sie auch. Gib ihr ⦠ein besseres Leben.« Willy streckte Hap seine andere Hand hin. Hap starrte sie widerwillig an.
Willy streckte den Arm weiter aus und tastete nach Hap. »Happenstance, wie kannst du das verweigern? Ich gebe dir die Chance, Milliarden zu retten. Tod und Zerstörung, Hunger, Mord und Wahnsinn abzuwenden. Das ⦠ist das Einzige, was ich als Gegenleistung verlange. Nimm meine Hand, Happenstance. Schwöre, dass du die Frau retten wirst, wenn du den Rest rettest. Umber wird dir sagen, wer sie ist und wie du sie finden kannst. Schwöre es mir! «
Umber holte tief Luft und hielt dann den Atem an. Er reichte Hap seine freie Hand, um den Kreis zu schlieÃen. Hap starrte die Hand an, nahm sie aber nicht. »Na gut. Ich schwöre, sie zu retten. Aber wozu? Das, worum du mich bittest, kann ich ja gar nicht.« Er wandte sich um und verlieà das Zimmer. Er machte sich nicht einmal die Mühe, die Tür hinter sich zuzuknallen.
22
H aps düstere, nachdenkliche Stimmung wurde von einem vertrauten Geräusch unterbrochen: Kutschenräder polterten über die gepflasterte Auffahrt und Hufe klapperten dazu. Jede Kutsche machte ein charakteristisches Geräusch und Hap erkannte dieses wieder. Er schaute aus dem Fenster und war nicht überrascht, die königliche Kutsche nach Aerie herauffahren zu sehen.
Er fragte sich, wer wohl darin saÃ. Könnte es Loden sein? Der Gedanke erfüllte ihn mit heftiger Wut. Oder vielleicht ist es Fay ⦠mit Sable? Diese Möglichkeit beschwor in ihm merkwürdig zwiespältige Empfindungen herauf, ganz besonders, was Sable anging. Er war schockiert, dass ihm plötzlich nicht wohl bei dem Gedanken war, sie wiederzusehen, und ertappte sich dabei, wie er die Stelle an seinen Lippen berührte, die Sophie mit ihrem Kuss berührt hatte.
Die Kutsche fuhr ins Pförtnerhaus ein, ohne dass er einen Blick auf die Insassen erhaschen konnte.
Weitere Kostenlose Bücher