Die Bücherdiebin
stellte sie auf die Füße. »Und jetzt üben wir...« Am Fuß der Stufen straffte sich Papas Gestalt, und er reckte den Arm in die Höhe. Exakt in einem Winkel von fünfundvierzig Grad. »Heil Hitler.«
Auch Liesel stand auf und hob den Arm. Mit vollkommenem Elend in der Stimme wiederholte sie: »Heil Hitler.« Es war ein merkwürdiger Anblick - ein elfjähriges Mädchen, das vor einer Kirchentreppe stand und versuchte, nicht zu weinen, während sie dem Führer salutierte und im Hintergrund, über Papas Schultern hinweg, die Stimmen auf den dunklen Haufen einschlugen und -hackten.
»Sind wir immer noch Freunde?«
Etwa eine Viertelstunde später hielt Papa einen Olivenzweig in Form von Papier und Tabak in seiner Hand, aus der Ration, die er kürzlich erhalten hatte. Wortlos und mit düsterem Blick griff Liesel danach und rollte ihm eine Zigarette.
Eine Weile saßen sie nebeneinander.
Rauch kletterte über Papas Schulter.
Nach weiteren zehn Minuten sollte sich eine Tür, die zum Diebstahl führte, einen Spaltbreit öffnen, und Liesel Meminger würde sie noch etwas weiter aufstoßen und sich hindurchzwängen.
ZWEI FRAGEN
Würde sich die Tür hinter ihr wieder schließen? Oder war sie willens, sie wieder hinauszulassen?
Liesel sollte herausfinden, dass ein guter Dieb über mehrere Eigenschaften verfügen musste. Verstohlenheit. Nervenstärke. Schnelligkeit.
Wichtiger noch als diese drei Dinge war allerdings eine weitere Voraussetzung. Glück.
Wisst ihr was?
Vergesst die zehn Minuten. Die Tür öffnet sich genau jetzt.
buch des feuers
Die Dunkelheit kam in Etappen, und als die Zigarette zu Ende geraucht war, machten Liesel und Hans Hubermann sich auf den Heimweg. Vom Marktplatz aus mussten sie an der Stelle vorbei, an der das Freudenfeuer gebrannt hatte, und durch eine schmale Seitengasse zur Münchener Straße. Aber so weit kamen sie nicht.
Ein Zimmermann in den mittleren Jahren mit Namen Wolfgang Edel sprach sie an. Er hatte die Plattform für die Nazi-Bonzen gebaut, von wo aus sie das Feuer betrachten konnten, und er war gerade dabei, sie wieder abzureißen. »Hans Hubermann?« Er trug lange Koteletten, die auf seinen Mund deuteten, und hatte eine tiefe Stimme. »Hansi?«
»Hallo, Wolferl«, erwiderte Hans. Es folgte ein allgemeines Händeschütteln und ein »Heil Hitler«. (»Gut gemacht, Liesel.«)
Die ersten paar Minuten blieb Liesel in einem Radius von etwa fünf Metern um das Gespräch zwischen den Männern. Satzfragmente rauschten an ihr vorbei, aber sie achtete nicht sonderlich auf sie.
»Kriegst du genug Arbeit?«
»Nein, alles wird knapper. Du weißt ja, wie das ist, besonders wenn man nicht in der Partei ist.«
»Du hast mir doch erzählt, dass du beitreten willst, Hansi.«
»Ich hab's versucht, aber dann habe ich einen Fehler gemacht - ich glaube, sie sind immer noch dabei, sich die Sache zu überlegen.«
Liesel schlenderte auf den Ascheberg zu. Er lag da wie ein Magnet, wie eine Missgeburt. Unwiderstehlich, fast wie die Straße der gelben Sterne.
So wie sie vorher den Drang verspürt hatte, die Entzündung des Haufens mit anzusehen, so wenig konnte sie jetzt wegschauen. Alleingelassen besaß sie nicht die Disziplin, auf Abstand zu bleiben. Der Berg zog sie zu sich hin, und sie fing an, ihn zu umrunden.
Über ihr vollendete der Himmel seine abendliche Verdunkelung, aber in weiter Ferne, hinter dem Grat des Berges, hing eine trübe Lichtspur.
»Pass auf, Kind«, sagte ein Uniformierter irgendwann zu ihr, während er Asche auf einen Karren schaufelte.
Näher beim Rathaus, unter einer Straßenlaterne, standen eine Handvoll Schatten, die sich unterhielten und wahrscheinlich frohlockten über den Erfolg der Veranstaltung. Von Liesels Standpunkt aus waren ihre Stimmen bloß Geräusche. Keine Worte.
Ein paar Minuten lang schaute sie den Männern zu, die an dem Haufen herumschaufelten. Zunächst nahmen sie an den Seiten etwas weg, damit von oben mehr Asche herabrutschen konnte. Sie gingen zwischen dem Ascheberg und einem Lastkarren hin und her, und als sie das dritte Mal zurückgekehrt waren und der Rest des Haufens nur noch den Boden bedeckte, rutschte etwas Lebendiges unversehrt aus der Asche.
WAS DAS LEBENDIGE WAR
Die Hälfte einer roten Fahne, zwei Plakate, die die Lesung eines jüdischen Dichters verkündeten, drei Bücher und ein Holzschild, auf dem etwas auf Hebräisch geschrieben stand.
Vielleicht waren die Gegenstände feucht gewesen. Vielleicht hatte das Feuer nicht lange
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