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Die Buecherfluesterin

Die Buecherfluesterin

Titel: Die Buecherfluesterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anjali Banerjee
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Gesicht ist verschwollen, das schwarze Haar hängt schlaff herab, ihre Augen sind glasig. Tante Charu, früher dunkelhäutig und wunderschön, hat ihren Glanz verloren. » Jasmine, wie schön, dich zu sehen.«
    Ich umarme sie fest. » Es ist lange her.«
    » Kommt rein, kommt rein.« Sie macht Platz und umarmt und küsst meine Eltern. Das Haus der Mauliks ist Indien pur. Teppiche aus Kaschmir bedecken die Parkettböden. Auf Beistelltischen aus Teakholz thronen die Statuen indischer Gottheiten. Im Esszimmer prangen seidene Wandbehänge, die Szenen aus Hindu-Epen darstellen. Und im großen Wohnzimmer mit Blick auf das Wasser steht ein Importsofa unter einem Bild, das eine Schlachtenszene aus dem Mahabharata zeigt. Der Geruch von Holzrauch und scharfen Gewürzen liegt in der Luft. Die Mauliks haben das Andenken an ihre Heimat schon immer sehr hochgehalten. Jedes Detail dieser Wohnung scheint ihr Heimweh nach Bengalen zu verströmen.
    Im Gegensatz dazu beherbergt das Haus meiner Eltern eine Mischung aus Dekorationsgegenständen aus Ost und West, vielleicht das Ergebnis dessen, dass mein Vater Reisen und Veränderungen liebt. Er, Ma und Tante Ruma sind die Ersten aus unserer Verwandtschaft, die Indien den Rücken gekehrt haben. Sie haben neue Wege beschritten und sich begeistert ins amerikanische Getümmel gestürzt.
    Mein Vater bewacht den Lachs auf dem Grill, Onkel Benoy schenkt Getränke ein. Meine Mutter plaudert mit einer alten Freundin aus Indien. Das Gesicht kommt mir bekannt vor, aber der Name fällt mir nicht ein.
    Wie bestellt und nicht abgeholt stehe ich an der Gartenmauer und betrachte den Rhododendron mit gespieltem Interesse.
    » Na, Jasmine, du bist ja jetzt beruflich erfolgreich, was?« Onkel Benoy schlurft auf mich zu und umarmt mich fest. Seit unserer letzten Begegnung vor zehn Jahren ist er schlohweiß geworden.
    » Es läuft ganz gut«, antworte ich. Schon wieder eine Lüge. Schlagartig wird mir bewusst, wie prekär meine Position in der Firma ist. » Du siehst gut aus, Onkel.« Sein Gesicht ist faltig und eingefallen.
    » Und unsere Gita heiratet bald.«
    » Wir freuen uns alle darauf«, erwidere ich höflich.
    » Etwas zu trinken? Einen Bissen zu essen?« Er klopft mir auf den Rücken.
    » Wasser wäre prima.«
    » Kommt sofort.« Er trottet los.
    » Jasmine, bist du das?« Eine langhaarige junge Frau erscheint neben mir. Auf ihrer Hüfte sitzt ein engelsgleiches kleines Mädchen.
    » Sanchita?« Ich betrachte sie. Sie hat sich in eine langgezogene Version ihres kindlichen Ich verwandelt. Dasselbe dunkle, ovale Gesicht und die großen Augen. Ein dunkler Flaum auf der Oberlippe ist hinzugekommen. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war sie knapp achtzehn, drei Jahre jünger als ich. Kurz danach ist sie weggezogen, um zu studieren.
    Ein kleiner Junge stürmt auf sie zu. Er ist etwa drei oder vier Jahre alt und schwenkt ein großes Bilderbuch. Pyjamas und Wuschelpfoten! » Mom, kannst du mir das vorlesen?«
    Mom? Sanchita, Einzelkind und mit allem verwöhnt, was das Herz begehrt, hat schon zwei Kinder bekommen. Ich bin wie vor den Kopf geschlagen und fühle mich von Minute zu Minute älter.
    » Nach dem Essen«, sagt sie.
    » Ma-a-a!«
    » Geh spielen.«
    Schmollend trottet er davon.
    » Vishnu!«, ruft sie ihm nach. » Wasch dir vor dem Essen die Hände.«
    Er nickt, ohne sich umzudrehen.
    » Niedlich«, sage ich. Mein Magen krampft sich zusammen. Gut, ich bin eifersüchtig.
    Obwohl ich nicht ihr Leben führen möchte, beneide ich sie um ihre glückliche kleine Familie, die Fähigkeit, die Erwartungen ihrer Mitmenschen zu erfüllen, und ihre offensichtliche Zufriedenheit mit der ihr zugedachten Rolle.
    » Sie ist die Schwierige«, sagt Sanchita und weist mit dem Kopf auf das Baby auf ihrer Hüfte. Die Lippen des kleinen Mädchens zittern. Die Wangen hängen ihr über das Kinn. Sie ist mehr als süß. Sie verkörpert Frische und neues Leben.
    Ich berühre die heißen Wangen des Babys. » Sie ist absolut hinreißend.«
    » Wenn sie will.« Sanchita wiegt das Baby. Im fahlen Dämmerlicht fällt mir auf, wie eingefallen Sanchitas Gesicht ist. Ihre Augen haben etwas Leeres, als ob sich ein Teil von ihr verabschiedet hätte.
    » Wir haben uns ja eine Zeitlang nicht gesprochen. Du bist weggezogen, um zu studieren. Was machst du denn jetzt?«
    » Ich bin Ärztin. Kinderärztin.«
    Das Wort– Kinderärztin – lässt sie in strahlendem Licht erscheinen. Das hätten sich meine Eltern für mich gewünscht.

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