Die Buecherfluesterin
Ihre auch. Es ist das, was sich alle indischen Eltern für ihre Kinder wünschen. Sie ist der Inbegriff eines Sprösslings aus einer bengalischen Oberschichtfamilie. Außerdem übt sie einen sehr angesehenen Beruf aus und hat einen Sohn zur Welt gebracht. Und dazu noch die obligatorische niedliche Tochter, die man so hübsch in die Wange kneifen kann. Was kann man mehr verlangen?
» Glückwunsch«, sage ich mit trockener Kehle. » Der Beruf macht dir sicher großen Spaß.« Ich würde wetten, dass sie in einer Villa wohnt und ein Kindermädchen beschäftigt– es sei denn, ihr Mann ist Hausmann.
» Ja, normalerweise schon.« Über meine Schulter hinweg sieht sie jemanden an, der hinter mir steht. Vielleicht bin ich nicht wichtig genug, um ihre ganze Aufmerksamkeit zu verdienen. » Und was ist mit dir?«
» Ich wohne in L. A. und bin Anlageberaterin. Portfolios zur Altersvorsorge.«
Sie nickt und scheint nur mit halbem Ohr zuzuhören. Ihre Tochter spielt mit ihrem Haar.
Onkel Benoy kehrt mit meinem Glas Eiswasser zurück und kneift das Baby in die Wangen. » Wie geht es denn meiner kleinen Durga heute?« Er flötet ihr Koseworte auf Bengali zu, das ich nicht beherrsche, nimmt sie Sanchita aus dem Arm und trägt sie weg, um sie den anderen Gästen vorzuführen.
Offenbar stellt Sanchita große Erwartungen an ihre Kinder, denn sie hat sie nach mächtigen Gottheiten im Pantheon der Hindus benannt.
» Und dein Mann?«, erkundige ich mich. » Was macht der?«
» Er ist Gehirnchirurg«, erwidert sie und blickt Onkel Benoy nach, der mit Durga davongeht.
Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Was sollte er auch sonst sein? » Ist er heute hier? Oder muss er arbeiten? Bereitschaft? Chirurgen haben nur wenig Freizeit, stimmts?«
» Er ist hier. Die Familie ist ihm sehr wichtig.«
» Das ist ja wunderbar.« Robert hatte auch viel Familiensinn. Wenn er die Gelegenheit dazu gehabt hätte, hätte er mehrere Familien mit unterschiedlichen Frauen gegründet. Lauren wird sich nicht lange halten. Sie ist nur die Letzte in der langen Reihe von Roberts Eroberungen.
» Und du? Bist du verheiratet?«, fragt Sanchita und leckt sich im nächsten Moment über die Lippen. » Nein, du lebst getrennt. Bist geschieden.« Offenbar hat jemand in ihrer Familie meine missliche Lage erwähnt. Hast du schon von der armen Jasmine gehört?
» Seit einem knappen Jahr«, entgegne ich, ein bemühtes Lächeln auf den Lippen.
» Stimmt. War er Inder oder Amerikaner?«
War! Als ob er inzwischen verstorben wäre. » Amerikaner.« Na klar, ist die Antwort, mit der ich eigentlich rechne.
» Wo hast du ihn kennengelernt?«, fragt sie stattdessen.
» Durch gemeinsame Freunde bei einer Unifete. Er ist Professor für Völkerkunde.«
Sie nickt. » War das nicht ursprünglich auch dein Hauptfach?«
» Anfangs. Aber dann bin ich auf etwas Praktischeres umgestiegen.«
» Und Gita? Heiratet die nicht nächsten Frühling? Einen Inder?«
» Ich hab so was gehört«, erwidere ich.
Ein hoch gewachsener attraktiver Mann, bekleidet mit einem offenen Hemd und einer Stoffhose, kommt auf uns zu. Er sieht aus, als wäre er soeben einem Bollywood-Film, irgendeinem Heldenepos, entstiegen. Er wirkt ungezwungen und sich seiner gesellschaftlichen Position bewusst. Hätte sich mein Leben vielleicht anders entwickelt, wenn ich einen solchen Mann geheiratet hätte?
» Liebling«, wendet er sich mit sanfter Stimme und leichtem bengalischem Akzent an Sanchita. Sein Blick zeigt, wie sehr er sie verehrt. » Deine Mutter braucht Hilfe in der Küche.«
» Richte ihr aus, dass ich komme«, antwortet Sanchita.
Er dreht sich lächelnd zu mir um. Makellose weiße Zähne. » Ich bin Mohan, Sanchitas Mann, und du bist…«
» Jasmine, niemandes Ehefrau.« Ich bin auch keine Mutter und eine miserable Buchhändlerin. Und obwohl ich Geldanlagen verwalten kann wie kaum eine andere, bin ich wahrscheinlich bald meinen Job los.
Sanchita und Mohan sehen mich fragend an.
» Nichts für ungut«, meine ich. » Schlechter Scherz.«
» Sanchita!«, ruft Tante Charu.
» Ma, ich komme«, erwidert Sanchita. Ihre Stimme klingt kindlich, als sie mit Mohan davoneilt.
Wir essen auf der Terrasse, und der Abend vergeht mit angeregten Debatten über Politik, Religion, Reisen, Physik, Astronomie und Literatur. Allmählich finde ich Gefallen an dem Geplänkel, der Gesellschaft von guten Freunden und dem Essen– würziger Lachs, Basmatireis, leckeres dal und süße Nachspeisen.
Nach einer Weile fällt
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