Die Buecherfluesterin
das Gewicht vermeintlicher Erwartungen von mir ab. Der Wein trägt dazu bei, meinen Schmerz zu dämpfen und die scharfen Kanten trauriger Erinnerungen abzuschleifen. Benommenheit macht sich breit und später, bei meinen Eltern, habe ich zum ersten Mal seit einem knappen Jahr keine Schwierigkeiten beim Einschlafen.
Als ich am nächsten Morgen in den Buchladen komme, flucht Tony, der sehr beschäftigt ist, leise vor sich hin. » Du hast nicht hier übernachtet, stimmts? Ich bin früher hergekommen, weil ich schon so ein ungutes Gefühl hatte. Und jetzt schau dir an, was los ist.«
Ich blicke mich um, und der Mund bleibt mir offen stehen. » Was zum Teufel ist denn hier passiert?«
Kapitel 13
I
m Salon herrscht das absolute Chaos.– Bücher sind aus den Regalen gefallen, Möbel haben sich bewegt, und in der Auslage mit Gertrudes Bilderbüchern befinden sich nun Klassiker von Beatrix Potter, E.B. White, Lewis Carroll und anderen verstorbenen Autoren.
Mit klopfendem Herzen steuere ich auf die Tür zu. » Ich rufe die Polizei.«
» Nein, nicht.« Rasch stellt Tony sich mir in den Weg. » Es wurde nichts gestohlen. Ich habe die Kasse überprüft.«
» Aber hier haben die Vandalen gehaust.«
» Nicht die Vandalen. Es wurde nur umgeräumt.« Er hebt eine Ausgabe von Shakespeares Sonetten auf.
» Was meinst du mit umgeräumt?«
» Das geschieht manchmal. Alles ist noch da, eben nur nicht an seinem Platz, wo es sein sollte.«
» Woher weißt du das? Kennst du alle Bücher?«
» Mehr oder weniger. Dieser Raum hier ist als einziger betroffen.«
» Meine Tante braucht eine Alarmanlage.«
» Das ist überflüssig. Wir sind hier nicht in L. A. « Tony schiebt einen Lehnsessel weg von der Wand.
» Offensichtlich doch. Jemand ist eingebrochen!«
» Hier ist niemand eingebrochen.«
Ein eiskalter Schauder durchläuft mich. » Soll das heißen, dass derjenige die ganze Zeit über im Haus war?«
» Ja, vielleicht.«
» Und wo ist er jetzt? Warum sollte jemand so etwas tun?«
» Möglicherweise will er verhindern, dass wir uns mit Gertrude befassen.«
Ich stelle The Wind in the Willows zurück ins Regal. » Klar, die toten Autoren hätten es lieber, wenn sie bei uns im Mittelpunkt stünden.«
» Mag sein. Frag sie.«
Ich lache auf. » Aber, Tony! Warst du das etwa?«
Sein bohrender Blick könnte einen Stein durchdringen. » Warum sollte ich Chaos anrichten, das ich anschließend aufräumen muss? Ergibt das Sinn? Was für ein Motiv könnte ich dafür wohl haben?«
Ich hebe einen dicken Band vom Boden auf. Eine alte gebundene Ausgabe von Alice im Wunderland. » Um mich dafür zu bestrafen, dass ich nicht über Nacht geblieben bin? Keine Ahnung. Um mir Angst zu machen? Vielleicht willst du ja erreichen, dass ich die ganze Woche rund um die Uhr hier verbringe, damit du dir freinehmen kannst.«
» Glaube mir, ich werde Rumas Laden jetzt bestimmt nicht im Stich lassen.« Er reißt mir das Buch aus der Hand. » Ich habe dir gesagt, dass du bleiben sollst. Du hättest das verhindern können. Ich habe damit nichts zu tun.«
» Du gehst doch nicht ernsthaft davon aus, dass das Haus Launen hat. Das ist doch eine fixe Idee meiner Tante.«
» Ich würde es nicht als fixe Idee bezeichnen.« Er schürzt die Lippen. » Außerdem ist deine Tante nicht auf den Kopf gefallen.«
» Du glaubst also wirklich…?«
» Was ich glaube, spielt keine Rolle.«
Er schaut auf die Uhr. » Wir müssen hier Ordnung schaffen und Kaffee und Tee aufsetzen. Gertrude kommt jeden Moment. Ich habe keine Lust, mich jeden Tag mit diesem Tohuwabohu herumzuschlagen, solange du hier bist.«
» Jeden Tag? Du glaubst, das wird jeden Tag passieren?«
» Vielleicht sogar noch Schlimmeres. Wir könnten alle Möbel umstellen müssen. Vielleicht landen die Biografien und Memoiren ja auch bei den Krimis, und die Krimis stehen dann bei den Liebesromanen. Die Liebesromane bei den Nachschlagewerken.«
» Also ist es schon öfter passiert?«
Er runzelt die Stirn und zögert. » Deine Tante hat mir erzählt, sie sei hin und wieder weggefahren«, erwidert er. » Doch immer, wenn sie zurückkam, war irgendetwas nicht mehr an seinem Platz. Kleinigkeiten. Ein antiker Füllhalter war vom Wohnzimmer ins Büro gewandert. Auf der Anrichte lagen Teeblätter. Im Laufe der Zeit wurde es schlimmer. Im letzten Jahr war sie wegen einer Fachmesse in Portland. Bei ihrer Rückkehr war im Laden die Hölle los. Das Aufräumen hat zwei Tage gedauert. Deshalb verreist sie kaum
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