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Die Burg der Könige

Die Burg der Könige

Titel: Die Burg der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Pötzsch
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lange Zeit ein Grab frei gehalten worden. Nach seinem Tod hatte man das Fleisch von den Knochen gekocht und in der fernen Stadt Antiochia beigesetzt. Doch wo seine Gebeine lagen, wusste bis heute niemand.
    Während Agnes die verwitterten Steintafeln betrachtete, geschah plötzlich etwas Seltsames. Ein merkwürdiger Schauder kroch ihr über den Nacken, wanderte vom Rücken bis hinauf zu ihrer Kopfhaut. Gleichzeitig glaubte sie, von irgendwoher eine Stimme zu hören, die leise, kaum vernehmbar, nach ihr rief.
    »Agnessss …«, schien die Stimme zu hauchen. Immer wieder: »Agnessss, Agnessss, Agnessss …«
    Erschrocken fuhr Agnes herum. Sie erinnerte sich an die rauschenden Blätter vor ihrem Burgfenster in jener Nacht, als der bislang schlimmste Traum sie heimgesucht hatte. Bislang hatte sie kaum Zeit gehabt, über jene grausigen Bilder nachzudenken, das gespiegelte Antlitz der fremden und doch so ähnlichen Frau in der Weinlache und das belauschte Gespräch der Männer, die ihren Tod planten. Mit der Stimme kamen die Bilder zurück.
    »Agnessss … Agnessss … Agnessss …«
    Was um Himmels willen ist das?
    Angestrengt lauschte sie. Das Zischen war so leise, dass sie nicht wusste, ob sie sich die Worte vielleicht einfach nur einbildete. Nun war ihr, als käme das Geräusch nicht vom Hauptschiff her, sondern von weiter unten. Ein leichter Schwindel überkam sie. Ohne weiter nachzudenken, stieg sie die Stufen hinab, die vom rechten Seitenschiff hinunter in die Krypta des Doms führten. Das düstere, kreuzförmige Gewölbe wurde getragen von einer Reihe Säulen, die sich wie steinerne Bäume in der Dunkelheit verloren. Erst als Agnes unten angekommen war, wurde ihr bewusst, was sie gerade getan hatte. Wenn ihr jemand Böses wollte, steckte sie hier unten in weitaus größeren Schwierigkeiten als oben im Dom. Im Gegensatz zu den Räumen über ihr war hier unten offenbar keine Menschenseele. Zwei Fackeln am Eingang der Krypta sorgten dafür, dass zumindest der vordere Bereich ein wenig erhellt war, doch zwischen den hinteren Säulen war es finster wie in einer mondlosen Nacht. Sie hielt den Atem an und konzentrierte sich ganz auf ihre Umgebung.
    »Agnessss, Agnessss, Agnessss …«, schien es erneut von irgendwoher zu flüstern. Diesmal war die Stimme wieder eher über ihr. Oder seitlich?
    Was geht hier vor?
    Agnes schloss kurz die Augen und wischte sich über die Stirn. Hatte sie etwa Fieber? Hatte die zweitägige Reise im Regen sie so erschöpft, dass sie sich Dinge einbildete, die gar nicht existierten? Im rückwärtigen Bereich der Krypta konnte sie nun einige Altäre ausmachen. Erst jetzt sah sie ganz links einen Mönch vor einer Kerze knien, den Kopf gesenkt. Agnes’ Herz schlug nun so schnell, als wäre sie vom Markt bis hierher gerannt. Was war nur mit ihr los?
    »Agnessss, Agnessss, Agnessss …«, wisperte die Stimme.
    Hatte etwa der Mönch nach ihr gerufen? Eben wollte sie die gebeugte Gestalt ansprechen, als sie plötzlich innehielt.
    Und wenn es gar kein Mönch ist …
    Abrupt stand der Kniende auf und kam mit schnellen Schritten auf sie zu. Agnes öffnete den Mund zu einem Schrei, doch es kam kein Laut hervor. Plötzlich glaubte sie, von den Massen an Stein und Fels über ihr schier erdrückt zu werden. Der Mann vor ihr hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, nun schlug er sie zurück, und in der Düsternis der Krypta leuchtete sein Gesicht hell wie der Tag.
    Es war ein altes, grundgütiges Gesicht.
    »Was hast du, Kind?«, fragte der Mönch und sah sie verwundert an. »Geht es dir nicht gut?«
    »Es … es ist nichts«, keuchte Agnes, die mittlerweile ihre Stimme wiedergefunden hatte. »Ich sehe wohl schon Gespenster.«
    Ein letztes Mal starrte sie in die Dunkelheit, dann riss sie sich endlich los und stürmte die Treppe nach oben. Sie kam ins Stolpern, schlug der Länge nach auf die Stufen und rappelte sich wieder auf. Mit letzter Kraft rannte sie durch das dämmrige Mittelschiff des Doms hinaus ins Freie, und sofort verschwand das beklemmende Gefühl. Pilger gingen nah an ihr vorbei und musterten sie neugierig.
    Agnes sah an sich hinunter. Ihr Kleid war schmutzig und an einer Stelle eingerissen. So blass und zitternd gab sie darin wahrlich eine traurige Erscheinung ab. Sie lehnte sich erschöpft an den Domnapf und wartete, bis ihr Atem wieder ruhiger ging. Konnte es wirklich sein, dass sie jemand beobachtet und nach ihr gerufen hatte? Vorsichtig sah sie sich um, aber bis auf ein paar alte Frauen und

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