Die Burg der Könige
Burgküche eine winzige Kammer, in der er Salben, Tinkturen und medizinische Instrumente aufbewahrte. In den letzten Monaten hatte Agnes von ihm vieles gelernt, was man über die Heilkunde wissen musste. Sie hatte den »Macer Floridus« des Benediktiners Odo Magdunensis studiert und die schönen Zeichnungen der Heilpflanzen darin bewundert; sie konnte mehrere Dutzend Krankheiten beim Namen nennen und wusste, zu welchem Zeitpunkt man welche Heilkräuter sammeln musste.
Heute, am Tag des heiligen Alexius, rieten die Bauernkalender, Wiesenschaumkraut und vor allem Gundelrebe zu pflücken. Der Mond war zunehmend, was für die Heilkraft der blauen Blütenblätter unabdingbar war. Also hatte Agnes sich ihren Lederbeutel umgehängt und war hinaus in den Trifelser Wald gegangen. Sie wusste, wo sie die unscheinbare Gundelrebe finden konnte. Das efeuartige Kraut gedieh am besten auf sumpfigen, birkenumstandenen Lichtungen weiter unten in den Auen der Queich.
Während sie den schmalen, steilen Pfad von der Burg ins Tal hinabstieg und auf das ferne Donnern lauschte, musste sie einmal mehr an Margarethe denken und an das, was die Zofe getan hatte. Noch immer war sich Agnes nicht sicher, ob ihr Verrat unbedacht oder mit Absicht geschehen war. Doch im Grunde spielte das nun keine Rolle mehr. Margarethe hatte sich seit dem Vorfall nicht mehr auf der Burg blicken lassen. Agnes vermutete, dass ihre Magd vor der Rache des Burgvogts geflohen war und nun an irgendeinem Ort in der Pfalz einen Neuanfang wagte. Vielleicht war sie ja sogar nach Köln unterwegs, in die ferne, reiche Stadt, von der sie noch vor einigen Monaten so geschwärmt hatte und wo ihre Cousine arbeitete.
Eine kurze Zeit war Agnes wegen Margarethes Verschwindens traurig gewesen, schließlich kannte sie die Zofe schon seit ihrer Kindheit. Doch im Grunde hatte sie die einfältige und geschwätzige Frau nie richtig leiden können, denn Margarethe war immer schon neidisch auf sie gewesen. Agnes hoffte, dass sie nun endlich den reichen Mann fand, von dem sie immer geträumt hatte.
Mittlerweile hatte sie die sumpfigen Auen der Queich erreicht. Das Gewitter war weitergezogen. Im Mondlicht sah Agnes zwischen einzelnen Birken die blauen Blüten der Gundelrebe hervorspitzen. Sie bückte sich und begann, die Pflanzen einzeln mit einem Messer am Wurzelstrunk abzuschneiden und in ihren Beutel zu stecken.
Ein seltsamer Klang ließ sie herumfahren. Es dauerte eine Weile, bis sie erkannte, dass es sich tatsächlich um das Zupfen einer Saite handelte. Es folgte ein weiterer Ton, dann noch einer, bis sich schließlich eine kleine Melodie ergab, die vom Fluss herzukommen schien. Neugierig schulterte Agnes ihren Lederbeutel und machte sich auf den Weg, um das Geräusch zu erkunden. Schon nach wenigen Minuten hatte sie eine gewundene, moosbewachsene Uferbiegung erreicht, an der eine einzelne Weide die Äste tief ins Wasser tauchte.
Unter der Weide saß Melchior von Tanningen und strich über seine Laute.
Der Barde spielte eine altmodisch klingende Weise, die Agnes zugleich fröhlich und traurig machte. Offenbar war Melchior bereits wieder von der Ramburg zurückgekehrt.
Agnes’ Miene hellte sich auf. Sie hoffte inständig, dass der Sänger ihr mehr über Mathis’ Verletzungen sagen konnte. Außerdem waren die gelegentlichen Treffen mit ihm stets eine willkommene Abwechslung.
Eine ganze Weile hörte sie schweigend zu, erst als das Lied verklungen war, trat sie hinter den Birken hervor. Als Tanningen die fremden Schritte hörte, legte er in einer einzigen fließenden Bewegung die Laute zur Seite und zog seinen Degen. Doch dann erkannte er Agnes, und sein Gesicht entspannte sich.
»Edle Jungfer«, sagte er lächelnd und steckte die Waffe wieder zurück in die Scheide. »Was für eine freudige Überraschung! Solltet Ihr um diese Zeit nicht schon im Bett liegen?«
»Und solltet Ihr nicht mit Graf Scharfeneck drüben bei der Ramburg sein?«, erwiderte Agnes.
»Meine Anwesenheit war nicht mehr vonnöten. Ich hatte Weisung, Scharfenecks Vater und den anderen benachbarten Lehnsherren vom Ausgang der Schlacht zu berichten.« Der Barde griff wieder zur Laute und zupfte einige Saiten an, die sich mit dem Plätschern des Flusses zu einer fast geisterhaften Melodie vereinigten. »Ich fürchte, für ein Heldenepos war diese Fehde ohnehin zu klein und schmutzig. Auch wenn Euer Mathis sich gut geschlagen hat.«
»Wie geht es ihm?«, fragte Agnes ängstlich.
Melchior von Tanningen zwinkerte
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