Die Burg der Könige
könnten, dass gestern Nacht Sterne am Himmel waren«, unterbrach ihn der Wollweber Peter Markschild. »Wir haben sie zur Sicherheit ins Wachthaus gesperrt. Der eine, dieser Reichhart, hat bei seiner Festnahme wild um sich geschlagen, und wir mussten ihn erst zur Vernunft bringen. Wer weiß, vielleicht steckt er mit dir unter einer Decke. Ist er nicht auch ein Geschützmeister?« Mit breiter Brust wandte sich der reiche Wollweber an die umstehenden Gaffer und Ratsmitglieder. »Als Vorsitzender des Stadtrats übernehme ich in der Stadt das Kommando, bis uns der Herzog einen neuen Vogt schickt. Wenn dieser Bursche nicht reden will, dann wird ihn der Scharfrichter in Queichhambach mit seinen Feuerzangen schon noch eines Besseren belehren. Seid ihr damit einverstanden?«
Die Männer nickten, nur der weißhaarige Nepomuk Kistler blickte skeptisch drein. »Ich kann immer noch nicht recht glauben, dass der Junge das wirklich getan hat«, sagte er. »Bei allem, was man so von ihm hört, ist er doch recht anständig. Auf der anderen Seite …« Er zögerte, und sein faltiges Gesicht wurde noch eine Spur blasser. »Wenn er es nicht war, wer war es dann?«
»Der Bursche hat immer noch Gelegenheit, seine Unschuld zu beweisen«, wiegelte Markschild ab. »Erst mal nehmen wir ihn in Gewahrsam. Führt ihn ab.«
»Aber das stimmt doch alles nicht!«, schrie Mathis, während ihn zwei der Büttel packten und hinaus auf die Gasse schleiften. Hilfesuchend blickte er sich um. In der Menge draußen am Mühlbach stand auch der Wirt Diethelm Seebach, der nun verschämt zu ihm herübersah.
»Diethelm!«, rief Mathis. »Du kennst mich. Ich würde doch nie …«
Doch Seebach drehte sich weg. Sein Gesicht verschwand in der grölenden Menge, die nun anfing, mit Kot, Steinen und faulem Gemüse auf Mathis zu werfen.
»Bestie!«, fauchte ihn der Apotheker Konrad Sperlin an. »Wie ein Tier hast du getötet und wie ein Tier sollst du sterben!« Er warf einen Batzen Schafdung, dem Mathis nur mit Mühe ausweichen konnte. Der nächste Wurf traf ihn direkt ins Gesicht. Mathis musste daran denken, dass er mit vielen dieser Menschen gestern erst gefeiert hatte; mit einigen hatte er sogar vor einigen Monaten zusammengesessen, und sie hatten den Vogt zum Teufel gewünscht. Und nun bewarfen und bespuckten sie ihn.
Während die Wachen ihn weiterzerrten, blickte sich Mathis noch einmal um und sah in all die zornigen, zeternden, schimpfenden Annweiler Gesichter. Sie gehörten zu Gerbern, Kistlern, Krämern, Leinwebern, Mägden, Knechten und Bauern – allesamt einfache Leute, für deren Rechte Mathis doch immer hatte kämpfen wollen. Und nun wollten sie ihn am liebsten tot sehen.
Dann traf ihn ein Stein an der Stirn, und er taumelte blutverschmiert weiter.
***
Die ganze Nacht hatte Agnes am Bett ihres todkranken Vaters gewacht und seine Hand gehalten, während sein Atem schwächer und schwächer wurde. Ein paarmal noch war Pater Tristan zu ihnen gekommen, doch als der Mönch merkte, dass er nichts mehr ausrichten konnte, hatte er dem Trifelser Burgvogt die Letzte Ölung gegeben und Vater und Tochter schließlich allein gelassen. Am Ende war Erfensteins Körper so hart gewesen wie ein Stück Fels. Er erinnerte Agnes an jene steinernen Ritter, die auf Gräbern bis zum Jüngsten Gericht über die Toten wachten.
Als die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster brachen und die Vögel zu zwitschern begannen, setzte der Atem des Burgvogts schließlich ganz aus. Das Letzte, was sich an dem steifen Körper bewegte, waren seine Augen, mit denen er Agnes bis zum Ende fast flehentlich ansah; seine Stimme war zu diesem Zeitpunkt schon lange verstummt. Kurz vor dem Ende hatte Philipp von Erfenstein ihr offenbar noch etwas mitteilen wollen, doch aus seinem Mund waren nur röchelnde, unverständliche Laute gekommen.
Nach der längsten Nacht ihres Lebens schloss Agnes ihrem Vater die Lider und weinte lautlos. Philipp von Erfenstein war ein grober Klotz gewesen, aber auf seine Art hatte er Agnes immer geliebt, auch wenn er sich vermutlich zuweilen eine andere Tochter gewünscht hatte. Eine mädchenhaftere, liebreizendere; ein anmutiges Burgfräulein, das stickte, sang und mit ihresgleichen plauderte, und nicht mit Falken auf Krähenjagd ging. Nun hatte ihr Vater sie verlassen, und sie war allein. Die einzigen Freunde, die sie jetzt noch hatte, waren der uralte Pater Tristan und ihr Mathis – aber der amüsierte sich ja lieber mit den Dirnen unten in Annweiler.
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