Die Burg der Könige
das Messer erwischt hatte. Eine schmierige rötliche Schleifspur führte zum Pult, auf dem ein mit Blutflecken getränktes, teilweise beschriebenes Pergamentblatt lag. Hatte Pater Tristan vielleicht noch einen Abschiedsbrief verfassen wollen?
»Mathis, mein guter Mathis …«
Mathis zuckte zusammen, als er plötzlich die krächzende Stimme des alten Mannes vernahm. Pater Tristan hatte die Augen geöffnet und sah ihn lächelnd an. Seine Haut war blass und so runzlig wie ein Dörrapfel, sein Gesicht schien fast nur noch aus Falten zu bestehen, die Nase stach adlergleich hervor.
»Ich wusste, dass Gott mich erhören würde«, murmelte er. »Dich … dich schickt der Himmel.«
»Oder die Hölle«, entgegnete Mathis düster. Er fühlte nach Pater Tristans Herzen, das schwach und unregelmäßig klopfte.
»Pater, ich werde jetzt Hilfe holen«, fuhr er fort. »Wir werden Euch hinunter ins Krankenzimmer des Klosters legen, und dann …«
Pater Tristan fasste Mathis’ Hand so fest, dass dieser erschrocken innehielt.
»… keine Zeit …«, keuchte der Mönch. »Der Brief … Agnes …«
Mathis sah ihn verwirrt an. Dann fiel ihm das beschriebene Pergament ein, das auf dem Pult lag.
»Was … was ist mit diesem Brief?«, fragte er. Doch Pater Tristan hatte die Augen bereits wieder geschlossen, nur noch ein leises Röcheln war zu hören.
»Verflucht!« Vorsichtig bettete Mathis den verwundeten Mönch auf den kalten Boden des Scriptoriums und warf einen Blick auf das Pult. Das Pergament war in aller Eile beschrieben worden und mit Blut beschmiert. Pater Tristan hatte nur noch wenige Zeilen zustande gebracht. Mathis beugte sich über den Brief und begann murmelnd zu lesen.
Liebe Agnes, wenn du diese Worte liest, bin ich vermutlich schon bei meinem Gott. Sei nicht traurig, ich bin ein alter Mann, dem mehr Jahre vergönnt waren als den meisten anderen. Es ist das eingetreten, was ich befürchtet hatte: Die Bauern haben Zorn mit Gerechtigkeit verwechselt und stürmen das Kloster. Ich hoffe, dass der Herr in seiner grenzenlosen Güte einen der Klosterknechte fliehen lässt, damit dich dieser Brief noch erreicht.
Du hast mich oft gefragt, was deine Träume bedeuten, und ich habe dir gesagt, sie seien nur die Ausgeburt deiner Phantasie. Ich habe gelogen. Es ist der Ring, der etwas in dir geweckt hat, etwas, das lange verborgen war. Ich hielt es für das Beste, dir nicht mehr zu verraten. Doch nun glaube ich, dass du ein Recht hast, mehr über deine Vergangenheit zu erfahren. Unten am Rhein, in der Nähe von Bingen, steht ein uraltes Kloster. Es heißt Sankt Goar. Die Chorherren dort horten seit Jahrhunderten das Wissen des Reiches, und sie wissen auch …
Der Brief endete abrupt, nur ein einzelner Strich fuhr noch quer über das Pergament. Mathis vermutete, dass die Bauern in diesem Augenblick das Scriptorium gestürmt hatten. Hastig ließ er den Brief unter seinem Rock verschwinden. Er würde sich später darüber Gedanken machen. Nun musste er zunächst dafür sorgen, dass der Pater wenigstens die nächsten Stunden überlebte. Vielleicht gab es ja noch Hoffnung.
Vorsichtig hob er den erstaunlich leichten Körper des alten Mannes in die Höhe und schulterte ihn wie ein kleines Kind. Dann wankte er nach draußen auf den Gang und über die Treppe hinunter ins Erdgeschoss.
Tränen rannen Mathis über das Gesicht. Den Bauern würde er erzählen, dass sie vom Rauch der noch ungelöschten Feuer stammten. Sie würden ihm glauben, weil sie ihn als einen ihrer Anführer schätzten.
Nur sich selbst konnte er nicht belügen.
***
Agnes erblickte die rauchenden Feuer von einem der Hügel aus, über die sich der schmale Trampelpfad hinunter ins Tal schlängelte. Sie mochte noch gut eine Meile vom Kloster entfernt sein, doch die einzelnen Gebäude waren bereits gut zu erkennen. Es schien, als wäre ganz Eußerthal ein Raub der Flammen geworden.
Zwei Tage war es nun her, dass sie den Fetzen mit den Namen von Johann und Constanza im Geheimfach der Bibliothek gefunden hatte. Seitdem hatte Agnes auf eine passende Gelegenheit gewartet, die Burg heimlich zu verlassen. Friedrich durfte auf keinen Fall erfahren, dass sie sich mit ihrem alten Beichtvater treffen wollte. Da der Graf ahnte, dass Pater Tristan ihn des Giftmordes an Philipp von Erfenstein verdächtigte, war er dem Mönch gegenüber äußerst argwöhnisch. Doch heute trieb sich ihr Gemahl in den Wäldern rund um den Trifels herum, er würde bis zum Abend einige weitere
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