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Die Burg der Könige

Die Burg der Könige

Titel: Die Burg der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Pötzsch
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Branntweinfässern, Geschirr, verrosteten Waffen und allerlei Tand. Es roch streng nach alten Lederballen, die der Hurenhändler erst heute aus einer niedergebrannten Gerberei gestohlen hatte.
    Ein Geruch, der Agnes an Annweiler erinnerte.
    Bösartig starrte der kleine Satan von einer Truhe auf sie herab, während Barnabas neben ihr laut schnarchte. Wenigstens hatte sein Rausch dazu geführt, dass er gleich eingeschlafen war und so nicht über sie herfallen konnte. Erst nach Stunden dämmerte Agnes langsam weg, Barnabas’ rasselnder Atem klang auf einmal wie das Ächzen einer alten Eiche, und der Trosskarren schien mit ihr davonzufahren.
    Der Karren … , dachte sie noch, kurz bevor ihr die Augen endgültig zufielen. Das Leder …
    In dieser Nacht träumte Agnes zum ersten Mal seit dem Trifels nicht nur in verschwommenen Bildern. Sie sah, hörte und roch alles so lebendig, als wäre es Wirklichkeit. Doch diesmal sah Agnes keine Burg, um sie herum war nichts als dichter, dunkler Wald. Und ebenso wie jetzt im Tross befand sie sich in einem Wagen …
    … der Karren rumpelt, quietscht und ächzt. Agnes liegt hinten zwischen zusammengezurrten Bündeln gegerbten Leders. Sie kennt den Geruch, diese Mischung aus Moder, Säure und Wald, sie hat ihn schon oft gerochen.
    Agnes fühlt sich geborgen. Sie summt jenes okzitanische Schlaflied, das sie einst die Mutter gelehrt hat, und hält dabei ihre kleine handgeschnitzte Puppe in der Hand. Schließlich ­kuschelt sie sich in das Leder und schließt die Augen, während der Wagen weiterrumpelt. Vom Kutschbock her sind vertraute Stimmen zu hören, die sie einlullen. Eine Hand streichelt ihr durchs Haar und singt das Lied weiter. Die Stimmen sind wie eine weiche Woge, auf der sie dahingleitet.
    Coindeta sui, si cum n’ai greu cossire, quar pauca son, iuvenete e tosa …
    Doch plötzlich ertönt Geschrei, der Wagen hält an, und ­Agnes schrickt auf. Durch die dünne Wand aus Leinen sind nun Waffengeklirr und Schmerzensschreie zu hören, eine schrille Stimme schneidet wie ein Messer durch Agnes, sie kennt diese Stimme, und ein Kloß verstopft ihren Hals. ­Angstvoll kriecht sie unter die vielen Lederhäute. Der Geruch ist jetzt so stark, dass sie sich fühlt wie ein kleines Tier, wie ein Kälbchen, das man zur Schlachtbank zerrt. Sie hört, wie jemand das Leinen des Wagendachs in Stücke reißt. Gedämpfte Laute dringen an ihr Ohr, jemand schlägt mit etwas Scharfem auf die Ballen ein, immer wieder, die Laute kommen näher.
    Plötzlich ein erneutes Stöhnen, ein schwerer Körper fällt auf den Waldboden neben dem Wagen, und eine Hand zerrt die Lederhäute von Agnes weg. Sie ist jetzt ganz klein, ganz verletzlich, ihre Augen sind geschlossen, sie will das Untier nicht sehen, das sie gleich fressen wird. Doch das Untier ­frisst sie nicht, es hebt sie hoch, springt mit ihr vom Karren und läuft davon. Vorsichtig blinzelnd erkennt Agnes über sich das Gesicht des alten Kutschers Hieronymus, der ihr so oft etwas Süßes zusteckt. Hinter sich sieht sie einige verkrümmte Schemen am Boden liegen, Rauch steigt ihr in die Nase, ein Feuer knistert, doch Hieronymus läuft so schnell, dass schon bald nur noch Tannen und Buchen über ihr sind. Die Zweige streicheln sie wie mit langen, kratzigen Zungen. Von der Stirn des Kutschers tropft Blut auf ihr Gesicht und auf ihr Kleidchen.
    Alle sind tot, tot, tot …
    Nun sind die Hufschläge von Pferden zu hören, sie kommen rasch näher; Hieronymus keucht, er taumelt, schließlich drückt er Agnes einen Kuss auf die Stirn und legt sie in den hohlen Stamm einer Eiche.
    »Bei Gott, halt still!«, flüstert er.
    Er zögert kurz, dann drückt er ihr einen kühlen kleinen ­Gegenstand in die Hand.
    »Deine Mutter …«, beginnt er stockend. »Sie wollte, dass du das hier bekommst. Du darfst es nicht verlieren, hörst du? Gib es nur jemandem, dem du traust! Er soll es für dich auf­bewahren.«
    Hieronymus küsst sie ein letztes Mal auf die Wange, dann rennt der alte Mann ohne sie weiter. Bald ist er zwischen den Bäumen verschwunden. Plötzlich gellt ein kehliger Schrei durch den Wald. Schließlich herrscht Stille.
    Sie ist allein.
    Agnes spürt, wie sich Spinnweben auf ihr Gesicht legen, Käfer krabbeln über sie hinweg, brösliger Holzstaub rinnt ihr in die Nase und in die Ohren. Doch sie hält still, wie der alte Hieronymus es ihr befohlen hat. Auch als die Pferde an ihr vorbeitraben und als später erneut Stimmen und Rufe zu hören sind – sie hält

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