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Die Burg der Könige

Die Burg der Könige

Titel: Die Burg der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Pötzsch
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still.
    Irgendwann wird es dunkel, die Nacht kommt, der Mond scheint hell vom Himmel, und Agnes schält sich vorsichtig aus ihrem Versteck. Sie muss an die kleine Clara denken, mit der sie immer so gern Puppen gespielt hat. Plötzlich hatte Clara einen bösen Husten bekommen, und dann war sie tot. In einem kleinen Sarg lag sie, ganz steif und kalt, und Agnes hatte inständig gehofft, sie würde aus dem Sarg aufstehen. So wie sie sich jetzt aus dem hohlen Stamm erhebt.
    Alle sind tot, tot, tot …
    Der Mond scheint fahl durch die Zweige, sie tapst über feuchtes Moos, stolpert durch Gestrüpp und zerreißt sich ihr schönes neues Kleidchen an den Brombeerbüschen. Und plötzlich steht da diese Frau vor ihr, wie eine böse Hexe steht sie da, mit einem Stecken in der Hand und einer Kraxe auf dem Buckel. Sie beugt sich zu ihr herunter, und ihre Stimme ist ganz sanft, überhaupt nicht böse.
    »Was um Himmels willen tust du hier allein im Wald, mein Kind?«
    Erst jetzt fängt Agnes zu weinen an. Es ist ein stilles Wimmern, doch die Tränen fließen und fließen. Die Frau betrachtet Agnes’ zerrissenes Kleid und das Blut darauf, das von Hieronymus stammt, dann sieht sie sich vorsichtig um und schlägt ein Kreuz.
    Sie hebt Agnes in die Kraxe und trägt sie durch den Wald, das sanfte Gerüttel ist beinahe so einschläfernd wie das Rumpeln des Wagens. Und während Agnes in tiefer Dunkelheit versinkt wie in einem Teich, hallt es immer wieder durch ihren Kopf.
    Alle sind tot, tot, tot, tot, tot, tot …
    Mit einem Schrei fuhr Agnes hoch und blickte wild umher.
    Der Wald, die Hexe … Wo bin ich?
    Erst nach einer Weile fiel ihr ein, dass sie sich in Barnabas’ Wagen befand. Der Hurenhändler neben ihr grunzte und öffnete ein Auge. Seit Atem stank nach essigsaurem Wein und überdeckte den Geruch von Leder, der von den gegerbten Häuten ringsum ausging.
    »Was hast du?«, murmelte er verschlafen. »Greifen etwa die Bauern an?«
    Agnes schüttelte den Kopf, ihr Kleid war nass von kaltem Schweiß. »Ich … ich hab nur schlecht geträumt.«
    »Dann schlaf gefälligst weiter, oder ich sorge dafür, dass du wirklich schlechte Träume hast.«
    Zitternd ließ sich Agnes auf das Lager zurückfallen, ihr Herz raste. Der Traum war genauso echt gewesen wie die Träume auf dem Trifels. Doch diesmal war sie nicht Con­stanza gewesen, sondern sie selbst! Als kleines Kind von vielleicht vier, fünf Jahren. Ganz deutlich hatte sie noch den Geruch der Lederballen in der Nase, spürte sie die grob geschnitzte Puppe in ihrer Hand. In ihren Ohren klang noch immer das okzitanische Lied, das ihre Mutter ihr vorgesungen hatte.
    Mutter?
    Im Traum hatte sie die Gestalt, die gesungen und ihr übers Haar gestreichelt hatte, nicht gesehen. War das etwa ihre Mutter gewesen? Katharina von Erfenstein war gestorben, als Agnes etwa fünf Jahre alt war. Konnte dies eine erste frühe Erinnerung an sie gewesen sein? Agnes starrte an die Decke des Wagens und begann zu grübeln. Waren die anderen Menschen etwa auch keine Traumfiguren, sondern hatten wirklich gelebt? Aber wer war dann die vermeintliche Hexe gewesen, wer der Kutscher? Was hatte es mit diesem Überfall auf sich?
    Schließlich schüttelte sie den Kopf und streckte ihre vom Schlaf steifen Glieder. Viel wahrscheinlicher war, dass sie einfach wild geträumt hatte. Kein Wunder, bei all den Toten um sie herum, den grausamen Begebenheiten, die sie tagtäglich erlebte. Sie musste sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren.
    Zum Beispiel auf den Bauernjungen, der draußen vor dem Wagen stöhnte und nach Wasser verlangte.
    Leise schlug Agnes die Decke zur Seite, während Barnabas neben ihr wieder laut schnarchte. Auf Zehenspitzen stahl sie sich aus dem Wagen, schlich an dem am Feuer dösenden Samuel vorbei und gab dem Knaben zu trinken.
    »Danke«, flüsterte der Junge, bevor er wieder wegdämmerte. Noch immer hielt er ihre Hand, so fest, als wäre sie ein Tau, das ihn vor dem Ertrinken rettete.
    Agnes lächelte und sah hinauf zum funkelnden Sternenhimmel. Wenn ihre Mutter sie jetzt sehen könnte, wäre sie sicherlich stolz auf sie.
    ***
    Westlich des Rheins galoppierte ein Pferd schattengleich durch den nächtlichen Wald. Die Gestalt auf seinem Rücken hatte sich tief in den Sattel gedrückt, der Rappen war nass von Schweiß, und weißer Schaum wehte von seinen Nüstern.
    Dies war bereits das dritte Pferd, das Caspar zuschanden ritt. Das erste hatte kurz hinter Worms zu lahmen begonnen, das zweite, ein

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