Die Burg der Könige
Schauder über die Kopfhaut fährt, etwas wühlt tief in ihren Eingeweiden. Verlegen lächelt sie zurück und hebt die Hand zum Gruß.
Da verschwimmt das Bild; der Jüngling, der Alte und all die anderen verschwinden im Nebeldunst, bis nur noch der leere, kalte Rittersaal vor ihr liegt. Ein plötzlicher Windzug löscht das Feuer im Kamin. Funken wirbeln, wirbeln im Kreis, immer schneller, bis sie einen blutroten Reifen bilden.
Einen Ring …
Schreiend wachte Agnes auf, ihre Stirn und ihr Nachtgewand waren nass von Schweiß. Sie brauchte einen Augenblick, bis sie wusste, wo sie sich befand. Das hier war ihre Kammer, sie war auf dem Trifels, der Burg ihres Vaters. Alles war dunkel und ruhig, nur in der Ferne krächzte ein Käuzchen. Es musste mitten in der Nacht sein.
Agnes schüttelte sich, um in die Wirklichkeit zurückzufinden. Es war keineswegs das erste Mal, dass sie von der Burg träumte. Besonders als Kind hatte sie das oft getan, und auch damals hatte sie Ritter und Burgfräulein gesehen, später waren die Träume dann seltener geworden. Doch dieser Traum war so echt gewesen, dass sie die Menschen darin beinahe riechen konnte! Ihren Schweiß, das duftende Harz der Tische, ja sogar die glimmenden Scheite im Kamin – es war, als müsste sie nur die Treppe hinuntergehen, um alles dort genauso vorzufinden.
Seufzend ließ sie sich in die Kissen zurückfallen. Warum konnte sie nicht in einer Zeit leben, die so bunt und prall von Geschichten war wie ebendieser Traum? Warum konnten Burgen nicht mehr so sein wie früher? Manchmal erschien ihr das Leben so grau wie ein verblasstes Bild in einem alten, zerfledderten Buch. Wie eine rätselhafte Signatur auf einer dieser handgeschriebenen Pergamentseiten, die Mönche früher mühsam kopiert hatten. Nichts geschah, alles schien stillzustehen.
Doch dann fiel Agnes ein, was sie am vergangenen Tag alles erlebt hatte. Sie musste an den Ring denken. War er etwa auch nur ein Traum gewesen? Aufgeregt tastete sie ihre Finger ab, bis sie das Gold spürte. Dann erst schloss sie erneut die Augen und fiel in einen tiefen und diesmal traumlosen Schlaf.
So konnte sie das Hacken, Schleifen und Hämmern nicht hören, das leise vom Wald durch ihr offenes Fenster wehte.
Die Männer dort draußen taten ihre Arbeit.
***
Etwa dreißig Meilen entfernt in der Bischofsstadt Speyer brütete der Sekretarius Johannes Meinhart in der Schreibstube der Ratskanzlei noch spät in der Nacht über den Akten.
Es galt ein paar abgeschlossene Gerichtsprozesse zu archivieren, und die Schrift des städtischen Schreibergehilfen war wieder einmal so erbärmlich, dass Meinhart die Hälfte der Protokolle neu schreiben musste. Der Sekretarius seufzte leise, während seine Feder über das dünne Pergament schrappte. Er war ein junger, ehrgeiziger Mann auf dem Weg nach oben. Es wurde gemunkelt, schon bald werde das deutsche Reichskammergericht wieder nach Speyer verlegt, wer sich da für höhere Aufgaben empfehlen wollte, musste eben öfter mal ein paar Überstunden einlegen. Darüber hinaus gestand sich Meinhart ein, dass er diese Stunden nach Einbruch der Dunkelheit durchaus mochte. Dann war er ganz allein in der Kanzlei, nur er und ein Haufen alter Pergamente, und die Kerze flackerte munter vor sich hin. Zu Hause warteten ohnehin nur ein zankzüchtiges Eheweib und fünf greinende Kinder, da waren ihm die raschelnden Akten schon lieber.
Soeben beugte sich Meinhart über einen besonders komplizierten Fall von Schuldüberschreibung, als ihn ein leises Geräusch innehalten ließ. Er richtete sich auf und lauschte. Da war es wieder, ein Quietschen und Klacken, als hätte der Wind eines der Fenster im Nebenzimmer aufgeweht. Meinhart runzelte die Stirn.
Es weht doch gar kein Wind …
Der Sekretarius spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Im benachbarten Retscherhaus hatte es erst vor einigen Tagen wieder gespukt; die Magd des Patriziers Landauer hatte ganz deutlich das schwere Rumpeln von Möbelstücken in der Kammer über sich gehört, doch als sie nachsah, war die Kammer leer. Waren die Gespenster nun etwa hierher in die Speyerer Ratskanzlei gekommen?
»Ist da wer?«, krächzte Meinhart, und seine Stimme klang so dünn wie ein Blatt Papier.
Er stand auf und wollte eben vorsichtig nach dem Rechten sehen, als die Tür zu seiner Schreibstube so plötzlich aufflog, dass der Zugwind sämtliche Pergamente vom Tisch wehte. Meinharts Schrei erstickte, als er sah, wer da soeben den Raum betreten
Weitere Kostenlose Bücher