Die Burg der Könige
seinen Nacken braun gebrannt, unter dem neuen Hemd aus feinem Augsburger Barchent traten deutlich die Muskeln hervor; außerdem trug Mathis seit kurzem einen Spitzbart. Der Krieg und die lange Reise hatten aus dem rothaarigen blassen Jüngling von einst ein stattliches Mannsbild gemacht.
»Darüber hinaus habe ich immer noch keinen Schimmer, was es mit dieser Lanze auf sich hat«, fuhr Mathis mürrisch fort. Er sah hinüber zu Agnes, die sofort ihren Blick senkte. »Immer wenn wir in den letzten Tagen darüber sprechen wollten, hast du nur abgewunken. Warum eigentlich?«
»Weil … weil mich diese ganzen Geschichten rund um meine Vergangenheit förmlich erdrücken!«, stieß Agnes hervor. »Kannst du das nicht verstehen? Bis vor einer Woche war ich noch eine einfache Pfälzer Vogtstochter, und nun soll ich plötzlich die Heilsbringerin des gesamten Deutschen Reiches sein. Das ist einfach zu viel für mich!« Sie seufzte. »Aber bitte, lasst uns darüber reden. Ich bin sicher, unser Barde kann uns einiges über diese berühmte Heilige Lanze erzählen.«
Melchior von Tanningen räusperte sich. »In der Tat.« Er lehnte die Laute an den Mast und setzte sich im Schneidersitz gegenüber von Agnes und Mathis.
»Diese Lanze hat eine lange Geschichte«, begann er. »Der Legende nach handelt es sich um ebenjenen Speer, den der römische Hauptmann Longinus dem Heiland in die Seite stieß, um zu überprüfen, ob er tot war. Das Blut, das Jesus dabei vergoss, heilte Longinus von einem schweren Augenleiden. Er ließ sich deshalb taufen und starb später in Caesarea als Märtyrer. Zuvor soll er das Blut Christi irgendwo vergraben haben.«
»Ich erinnere mich, von der Lanze irgendwo schon mal gelesen zu haben«, warf Agnes nachdenklich ein. Plötzlich hellte sich ihre Miene auf. »Natürlich! In der Legende vom Heiligen Gral! Die Lanze wird gemeinsam mit dem Gral in der Gralsburg vom alten König Amfortas bewacht.«
Melchior nickte. »Da die Lanze mit dem Blut des Heilands getränkt ist, wird sie bis heute verehrt und in Geschichten verewigt. Dabei ist von ihr nur noch die etwa unterarmlange Eisenspitze erhalten, in der auch ein Nagel vom Kreuz Christi steckt. Die Reliquie gilt als die heiligste der deutschen Reichskleinodien. Ich habe in einigen Büchern von ihr und den anderen Kleinodien gelesen.«
»Sagtet Ihr Reichskleinodien?« Agnes sah ihn verblüfft an. »Also die heiligen Gegenstände, die es braucht, um den König zu krönen?«
»Ja, warum fragt Ihr?«
»Pater Tristan hat mir vor einiger Zeit von den Reichkleinodien erzählt. Sie wurden mehrere Jahrhunderte lang auf dem Trifels aufbewahrt. Jetzt fällt mir auch ein, dass Pater Tristan damals die Heilige Lanze erwähnt hat.« Agnes runzelte die Stirn. »Wenn sie wirklich so heilig ist, könnte es tatsächlich sein, dass sie Constanza und Johann damals mitgenommen hatten.«
Melchior von Tanningen lächelte wissend. Er griff zu seiner Laute und schlug ein paar sanfte Akkorde an, während er mit pathetischer Stimme fortfuhr: »Die Lanze ist die mächtigste aller Reliquien, mächtiger als das Reichskreuz, das Schwert und der Reichsapfel zusammen. Es heißt, wer die Lanze in der Schlacht führt, ist unbesiegbar. König Otto hat damit die Ungarn auf dem Lechfeld zurückgeworfen, und auch andere Herrscher haben mit ihr glorreiche Siege errungen. Ohne die Heilige Lanze kann keiner zum römisch-deutschen König gekrönt werden.«
»Aber wenn Constanza und Johann damals diese Lanze gestohlen und irgendwo versteckt haben, wie wurden dann seitdem die Könige gekrönt?«, mischte sich Mathis verdutzt ein.
»Nun, was meint Ihr wohl?« Der Barde sah die beiden neugierig an. »Was hättet Ihr anstelle der Habsburger getan?«
»Ich … ich hätte sie gefälscht?«, schlug Agnes vor.
»So ist es wohl gewesen.« Melchior schlug einen dramatischen Schlussakkord und stellte die Laute zurück an den Mast. »Wenn es also stimmt, was Pater Domenicus berichtet hat, dann hat das gewaltige Folgen für das Reich. Alle Krönungen seit Albrecht von Habsburg wären demnach null und nichtig. Kein Habsburger saß jemals legitim auf dem Thron, auch nicht der jetzige Kaiser Karl V.«
Eine ganze Weile sagte keiner etwas, nur das Rauschen des Flusses und die gebellten Befehle der Seeleute waren von fern zu hören. Melchior grinste spitzbübisch, schließlich wandte er sich an Agnes.
»Versteht Ihr jetzt, was für eine Macht dieser Gegenstand in den Händen der richtigen Person hat? Wenn
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