Die Burg der Könige
Vorfahren ihr etwas mitzuteilen? War so etwas möglich?
Der Ort, wo alle Feindschaft endet …
»Und drei. Meine Geduld ist zu Ende«, sagte Friedrich von Scharfeneck und riss sie so aus ihren Grübeleien. Mit einem bösen Lächeln musterte der Graf Mathis, der in gebückter Haltung auf dem Monument kniete.
»Was meint Ihr, von Tanningen?«, erkundigte sich Friedrich. »Wie lange wird dieser Bursche wohl im Sarg weiterleben? Zwei Tage? Drei? Oder geht ihm bereits vorher die Luft aus? Ich glaube nicht, dass man seine Schreie unter der dicken Steinplatte hören wird.«
»Wenn Ihr wollt, dass der Jungfer noch etwas einfällt, solltet Ihr Eure dummen Sprüche lassen«, fuhr ihn Melchior an. »Wie soll sich das arme Mädchen denn da konzentrieren?«
»Das ist mir egal! Ich weiß nur, dass ich dieses Versteckspiel leid bin. Entweder sie sagt uns jetzt, wo die Lanze ist, oder wir beenden diese Posse auf meine Weise.«
Agnes schloss die Augen und bemühte sich, alles um sie herum auszublenden. Vielleicht war es ja so möglich, jene Stimme hervorzurufen, die sie damals hier gehört hatte. Doch was immer es gewesen war, es rührte sich nicht. Vielleicht war es ihre Angst oder einfach die Anwesenheit der anderen, aber in ihr war nichts. Nur eine Leere, die immer schneller von Panik ausgefüllt wurde. Agnes hoffte inständig, sich an etwas zu erinnern, an irgendetwas, was ihre Mutter ihr damals noch erzählt haben könnte. Geräuschfetzen flammten auf wie Lichtblitze …
Schlüpf unter die Decke und hör mir zu … Vor langer Zeit, mein Kind, da mussten deine Ahnen fliehen … Johann von Braunschweig hatte eine Lanze bei sich, eine mächtige Waffe, die alles Böse auf dieser Welt vernichten kann … Constanza blieb mit dem Kind in Annweiler, und Johann sagte ihr, er würde diese Lanze zu dem Ort bringen, an dem alle Feindschaft endet …
An dem alle Feindschaft endet … alle Feindschaft endet … alle Feindschaft …
Agnes blinzelte und sah plötzlich, wie Mathis nach seinem Stiefel griff. Im gleichen Augenblick wusste sie, was er vorhatte. Traurig, doch gleichzeitig entschlossen blickte er zu ihr herüber. Seine Augen waren schwarz und glänzten feucht, wie tiefe Brunnen, in denen sich der Schein der Fackeln spiegelte.
Schwarze tiefe Brunnen … Der Ort, an dem alle Feindschaft endet …
Im gleichen Augenblick durchfuhr Agnes ein Bild, das bislang irgendwo in einer Ecke ihres Gedächtnisses vergraben war und erst jetzt wieder zum Vorschein kam.
Der Domnapf …
»Ich weiß es!«, schrie sie plötzlich laut auf. Es klang wie ein Schmerzensschrei. »Ich weiß es! Ich weiß jetzt, was mit dem Satz gemeint ist!« Mathis starrte sie erstaunt an und richtete sich wieder auf. Anscheinend hatte er beschlossen, mit dem letzten Angriff doch noch zu warten. Auch Friedrich und Melchior musterten sie nun neugierig.
»Ihr meint, Ihr wisst, wo sich die Heilige Lanze befindet?«, fragte Melchior hoffnungsvoll.
Agnes schüttelte den Kopf, ihr Brustkorb bebte wie nach einem langen, schnellen Lauf. »Das … das nicht, aber ich weiß zumindest, dass der Dom der richtige Ort ist! Wir waren auf der falschen und doch auf der richtigen Fährte. Der Ort, an dem alle Feindschaft endet!« Sie lachte hell und schrill auf. »Es ist nicht die Kaisergruft, es ist die gesamte Domfreiheit!«
»Die … die Domfreiheit?« Friedrich runzelte die Stirn.
»Nun, warum ist Johann damals nach Speyer gegangen?«, fuhr Agnes hastig fort. »Er hätte die Lanze ja auch irgendwo anders verstecken können. Nur, um sie im Grab von Constanzas Ahnen zu verbergen?« Agnes schüttelte den Kopf. »Das war etwas, was ich damals schon nicht recht verstanden habe. Außerdem hat Mathis ja recht. Johann hätte gar nicht die Zeit gehabt, die Lanze in einem der Sarkophage zu verbergen. Erst jetzt wird mir klar, was Constanzas Liebster wirklich hier im Dom wollte.«
»Und was war das?«, wollte Melchior wissen.
Agnes atmete tief durch. »Der Speyerer Bischof war damals ein mächtiger Mann, beinahe so mächtig wie ein Kurfürst. Ich habe in der Trifelser Bibliothek davon gelesen, und auch Pater Tristan hat mir davon erzählt. Der Bischof hatte seine eigene Gerichtsbarkeit. Wer bei ihm Schutz suchte, war sicher, sogar vor den Häschern des Kaisers.«
»Die Domfreiheit!«, stöhnte Melchior. »Natürlich. Soviel ich weiß, existiert sie noch immer. Sie fängt vorne am Domplatz an.«
Agnes lächelte. »Um genau zu sein, am Brunnen, an dem wir unsere Pferde
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