Die Burg der Könige
grenzenlosen Erstaunens starrte Melchior auf den Bolzen, der plötzlich aus seiner linken Schulter ragte. Der lange Marten steckte die Waffe zurück in den Sack mit den Werkzeugen, wo sie bislang verborgen gewesen war. Neben ihm hielt der Söldnerführer Roland lässig eine weitere Armbrust in den Händen.
»Das … das werdet Ihr bereuen, Scharfeneck …«, keuchte der Barde und zog seinen Degen. »Elender … Verräter …«
»Oh, aus Eurem Mund klingt das ja beinahe wie ein Kompliment, von Tanningen.« Friedrich von Scharfeneck lüftete kurz den Hut wie zu einem letzten Gruß. Dann betrachtete er wieder gierig die Lanze in Agnes’ Händen, während seine drei Landsknechte ihre Katzbalger zogen.
»Roland, Hans, Marten, gebt diesem blauäugigen Dummkopf den Gnadenstoß«, befahl er. »Und dann steckt ihn mit dem anderen Narren in die noch offenen Sarkophage. Es wird Zeit, dass wir diese Posse hier endlich beenden.«
Mit ausdruckslosem Blick richtete Roland die Armbrust auf den verblüfften Mathis und drückte ab.
Als Mathis das Schnarren des Bolzens hörte, ließ er sich intuitiv nach vorne fallen. Im Gegensatz zum gutgläubigen Melchior hatte er die Waffe den Bruchteil einer Sekunde vorher noch bemerkt. Dieser Umstand rettete ihm nun das Leben. Der Bolzen prallte nur wenige Handbreit über ihm an eine Säule und schlug dort ein Stück Stein heraus, bevor er klappernd irgendwo im Dunkeln auf den Boden fiel. Fluchend warf Roland die Armbrust weg, für ein weiteres Laden blieb ihm keine Zeit mehr. Er nestelte an seinem Schwertgurt.
Darauf hatte Mathis nur gewartet. Er zog den Dolch aus dem Stiefelschaft und warf sich brüllend auf seinen weitaus größeren Gegner, der verblüfft einige Schritte nach hinten taumelte.
Du wolltest deine letzte Chance , dachte Mathis. Hier ist sie, also nutze sie! Eine weitere wirst du nicht bekommen.
Aus dem Augenwinkel heraus sah er, wie der lange Marten und Hans gemeinsam gegen den schwerverletzten Melchior fochten. Irgendwo hinter ihm brüllte der Graf.
»Verdammt, was seid ihr bloß für Versager!«, tobte Friedrich. »Umbringen solltet ihr die beiden, nicht zum Duell auffordern!«
Mit aller in ihm aufgestauten Wut stieß Mathis mit dem Messer zu, doch die Waffe prallte nutzlos am Kettenhemd seines Gegners ab. Der bullige Landsknecht drückte den Dolch wie ein Spielzeug zur Seite und schob Mathis von sich weg. Schnaufend zog er seinen Katzbalger, ein kleines Schwert, mit dem die Landsknechte im Nahkampf fochten. Er täuschte rechts eine Bewegung an, dann holte er links zum Schlag aus. Mathis tauchte darunter weg, machte einen Satz und prallte mit dem Rücken schmerzhaft an die Wand des kaiserlichen Grabmals, das ihm den Rückweg abschnitt. Mit dem Dolch in der zitternden Hand erwartete er den nächsten Angriff, doch er wusste, dass er auf Dauer gegen das längere Schwert keine Chance hatte. Hinzu kam, dass Roland im Gegensatz zu ihm das Töten gelernt hatte und ihm auch körperlich weit überlegen war. Mit einem bösen Grinsen hob der Landsknecht den Arm zum tödlichen Hieb. Dann rannte er auf Mathis zu.
»Kleiner Dreckskerl«, zischte er. »Du solltest schon längst tot …«
In diesem Augenblick warf Mathis den Dolch.
Es war eine letzte Verzweiflungstat, doch diesmal schien das Schicksal selbst seine Hand geführt zu haben. Die Klinge sauste gerade wie ein Pfeil durch die Luft und fuhr schließlich genau in die Halsbeuge seines Feindes, wo das Kettenhemd endete und die nackte Haut hervortrat. Getrieben von seinem eigenen Schwung, rannte der Landsknecht noch einen Augenblick lang weiter, doch dann strömte das Blut in einem breiten Schwall aus der Wunde, und Roland brach gurgelnd zusammen. Mit beiden Händen griff er nach dem Dolch in seinem Hals, schließlich kippte er vornüber, wobei er in einem letzten verzweifelten Versuch noch nach Mathis griff. Zuckend blieb er nur wenige Handbreit vor ihm auf dem Kirchenboden liegen, wo sich schon bald eine große dunkle Lache um ihn bildete.
Gelähmt vor Entsetzen starrte Mathis auf seinen sterbenden Gegner. Neben ihm kämpfte noch immer der mittlerweile leichenblasse Melchior gegen die beiden anderen Landsknechte. Der Bolzenschaft ragte fingerlang aus der Schulter des Barden, und ein roter Fleck hatte sich auf seinem hübschen Samtwams ausgebreitet. Lange würde er nicht mehr durchhalten.
Mathis zögerte. Sollte er dem Mann, der sie so schnöde verraten hatte, zu Hilfe eilen? Oder sollte er versuchen, mit Agnes zu fliehen?
Weitere Kostenlose Bücher