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Die Burg der Könige

Die Burg der Könige

Titel: Die Burg der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Pötzsch
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Morgenstunde ganz offensichtlich getrunken hatte und nun mit stierem Blick leicht vor und zurück wippte. Dahinter standen schniefend die Köchin Hedwig und Agnes’ Zofe Margarethe, die zur Feier des Tages ein sauberes Leinenkleid mit Pelzborten angezogen hatte. Agnes hatte es noch nie an ihr gesehen, es wirkte in der tristen Umgebung so fehl am Platz wie Gelächter an einem Totenbett, und sie fragte sich, welcher ihrer Freier ihr diesmal etwas zugesteckt hatte. Etwa der gleiche, der ihr das billige Geschmeide vor einigen Wochen geschenkt hatte, oder hatte sie bereits einen neuen, noch vermögenderen Mann gefunden?
    Etwas abseits hinter den anderen entdeckte Agnes schließlich Mathis, der mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester Marie zur Beerdigung gekommen war. Schamvoll schloss sie die Augen, als sie daran dachte, wie sie Mathis gestern angegangen hatte. Was war nur über sie gekommen? Inzwischen erschien ihr der Verdacht einfach nur noch lächerlich. War es vielleicht falscher Stolz gewesen, weil Mathis sich in letzter Zeit nicht mehr für sie, sondern nur noch für seine Arbeit interessiert hatte? Selbst wenn Mathis den Verwalter im Streit getötet hätte, hätte er ihr das gesagt – so gut glaubte sie ihn nach all den Jahren zu kennen. Doch wer hatte dann Heidelsheim mit einer Armbrust umgebracht?
    » Requiem aeternam dona eis, Domine, et lux perpetua ­luceat eis … Amen.« Nach Pater Tristans letzten Worten gingen die Burgbewohner murmelnd und mit einigen hastig geschlagenen Kreuzen auseinander. Auch Mathis entfernte sich, ohne noch einmal den Blick zu heben. Agnes seufzte leise. Offenbar hatte er ihr noch immer nicht verziehen.
    Spontan beschloss sie, hinauf in die Bibliothek zu gehen. Dies war der Ort, wo sie seit ihrer Kindheit am besten ihren Gedanken nachhängen konnte. Die sprachgewaltigen Bal­laden eines Wolfram von Eschenbach oder die Geschichten Kaiser Maximilians über den »Weißkunig«, die farbenpräch­tigen Illustrationen, die einst Mönche sorgfältig auf Pergament gemalt hatten – all das hatte sie einst entführt in jene ferne Zeit, die jetzt in ihren Träumen wiederkehrte. Gelegentlich war auch Pater Tristan zugegen gewesen. Das stete Kratzen seiner Feder war für sie beruhigender gewesen als jedes Schlaflied.
    Als sie nun die Bibliothek im dritten Geschoss des Burgturms betrat, empfing sie der seit ihrer Kindheit vertraute Geruch von Staub, alten Pergamenten und Holzrauch. Obwohl es bereits Anfang Mai war, bollerte der Kaminofen, da es Pater Tristan gerne warm hatte. Doch der alte Mönch war nicht da, und Agnes war gleichzeitig enttäuscht und erleichtert. Gerne hätte sie Pater Tristan noch einiges zu ihren Träumen gefragt, auf der anderen Seite tat es ihr gut, ein wenig allein zu sein. Außerdem war der Pater ohnehin äußerst verschwiegen, was ihre Träume und die alten Geschichten anging.
    Agnes kam ins Grübeln. Warum wollte er eigentlich nicht mehr darüber reden? Warum war das alte Buch mit dem Bild vom Rittersaal nicht mehr aufzufinden? Und warum hatte Pater Tristan sie gebeten, den Siegelring Barbarossas nicht offen am Finger zu tragen?
    In Gedanken versunken schritt sie die Regale ab. Ihre Finger glitten über die einzelnen Bände in der Hoffnung, doch noch auf das seltsame Buch zu stoßen, doch vergeblich. Agnes erinnerte sich genau an den ledernen Einband und die goldene Schrift darauf. Das Buch war dick und groß, so etwas ließ sich nicht leicht verstecken. Ob der Pater es etwa nach un­ten in den Keller gebracht hatte, wo in Truhen noch zahlreiche Dokumente und Pergamentrollen lagerten?
    Agnes wollte die Suche bereits aufgeben, als sie am Ende eines Regals in Brusthöhe auf einen merkwürdigen Buch­rücken stieß. Beim Darüberfahren mit dem Finger fiel ihr auf, dass der Einband auffallend hart und nicht aus Leder, sondern aus Holz war. Sie klopfte dagegen, legte den Kopf schräg und konnte darauf einen lateinischen Titel erkennen.
    Divina Commedia. Decimus circulus inferni … Dantes zehnter Kreis der Hölle.
    Agnes stutzte. Tatsächlich hatte sie Dantes Beschreibungen der Hölle schon drei Mal gelesen. Sie liebte die plastischen Schilderungen, die ihr besonders nachts ein angenehmes Gruseln verursachten. Nur war sie bislang immer davon ausgegangen, dass es nur neun Kreise der Hölle gab. Von einem zehnten hatte sie nie etwas gehört.
    Neugierig zog sie an dem Buch, doch es schien irgendwo zu klemmen. Als sie fester daran zerrte, ertönte plötzlich ein leises

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