Die Burg
Toppe entschuldigte sich, zog seine Tochter vor sich und legte beide Arme um sie.
Einer der Stadtverordneten, der an der kleinen Mauer stand, sprintete plötzlich los. «John!», brüllte er. «John, one of your men was shot in his genitals!»
Toppe sah John über die Mauer hechten und auf eine Gruppe Männer zuhalten, die sich im Burggarten ein Scharmützel lieferten, aber er konnte nicht sehen, ob tatsächlich jemand verletzt worden war. Wieder wurden Musketen abgefeuert, dann erbebte die Erde unter dem nächsten Kanonenschlag, und das raue Kampfgebrüll wurde übertönt von einem Schrei aus Hunderten von Kehlen. Auf einmal war die Hölle ausgebrochen, die Zuschauer strebten in panischer Bewegung, laufend, schubsend, stolpernd, auf allen vieren den Burgberg hinab, viele stürzten, wimmerten vor Schmerz.
Toppe konnte auch später nicht erklären, was ihn getrieben hatte, aber in dem Moment, als die Lunte an die Kanone gelegt wurde, hatte er Astrid und Katharina gepackt und sie fast brutal nach hinten gezerrt. Durch die wogenden Leiber hatte er sie bis zum Zaun gebracht, wo sie sich jetzt festklammerten, um nicht mitgerissen zu werden.
Für Toppe war die Welt still geworden. Er sah die Menschen rennen, er sah sie brüllen, aber er hörte nichts, sah, wie die Militialeute ihre Waffen fallen ließen und sich in eine kopflose Flucht stürzten, blickte in die entsetzten Gesichter derjenigen, die hinter der Barrikade gefangen waren. Er sah das qualmende Gewirr von Brettern und Stangen, dort, wo eben noch die Ehrentribüne gestanden hatte, starrte auf die leblosen Körper, zehn, zwanzig, vielleicht mehr.
Ein grauenvolles Flehen riss ihn aus der Erstarrung, eine Frau kam auf sie zugekrochen, sie hatte keine Füße mehr.
«O mein Gott!» Er drückte das Gesicht seiner Tochter gegen seinen Bauch und fasste mit der anderen Hand Astrid bei der Schulter. «Nimm Katharina», fuhr er sie an. «Sieh zu, dass ihr nach Hause kommt. Bleibt am Rand!»
Sie nickte und nahm das stumme Kind auf den Arm. Toppe hatte das Telefon schon in der Hand und drückte die Kurzwahltaste für die Rettungsleitstelle. Er sah die Kollegen sich durch die Menge nach oben kämpfen, holte tief Luft und ging auf das Chaos zu.
«Drei Tote», sagte der Leitende Notarzt.
Toppe nickte. «Wo haben Sie sie hinbringen lassen?»
«In den Innenhof, sie sind bereits identifiziert. Wie läuft die Dokumentation?»
«Gut, einer meiner Mitarbeiter hat die Einsatzleitung übernommen.»
«Sie werden Melder brauchen, das Handynetz ist zusammengebrochen.»
Es war die alte Geschichte, die Funkfrequenz der Polizei stimmte mit der von Feuerwehr und Rettungsdienst nicht überein, und man war auf das Handy und schlimmstenfalls, so wie jetzt, auf Melder angewiesen, wenn man Informationen weiterleiten musste.
«Für die Einsatzleitung habe ich schon einen Kollegen abgestellt, und mein eigener Melder kommt gleich.»
Toppe wischte sich über die Stirn und wunderte sich, dass seine Hand trocken blieb. Vor ein paar Minuten hatte das Telefon noch funktioniert, und er hatte sich eine kurze Auszeit gestattet und Astrid angerufen. «Katharina geht es gut», hatte sie gesagt. «Sie denkt, alle Leute hätten sich genauso wie sie über den Kanonendonner erschrocken und wären deshalb weggelaufen. Ich lasse sie jetzt hier bei Sofia und komme zurück.»
Toppe warf einen letzten Blick auf das zerstörte Podium und die grauen, stinkenden Pfützen, die die Feuerwehr hinterlassen hatte, und machte sich auf den Weg zum Einsatzleitwagen.
Erst eine knappe Stunde war seit der Explosion vergangen, und alles lief, wie es laufen sollte. Schon nach wenigen Minuten waren die ersten Notärzte da gewesen und hatten gleich an Ort und Stelle die Triage durchgeführt, den Verletzten Sammelkarten angeheftet, rote, gelbe und grüne, und sie dann nach und nach in die sechs großen orangefarbenen Zelte transportieren lassen, die in Windeseile auf dem Marstallplatz aufgebaut worden waren.
Man hatte für eine Einbahnregelung gesorgt, sodass Kranken- und Notarztwagen in stetem Fluss an- und abfahren und die Verletzten zu den verschiedenen Krankenhäusern bringen konnten. Überall waren Ärzte, Sanitäter und Seelsorger. Er selbst hatte sich darum gekümmert, dass jeder Polizist und jeder Kripobeamte, der irgendwie erreichbar war, egal ob aus dem Urlaub oder der Freizeit, unverzüglich hierherbeordert wurde, und er sah sie nach und nach ankommen. Immer noch irrten zu viele Zuschauer umher, aber den
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