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Die Capitana - Roman

Die Capitana - Roman

Titel: Die Capitana - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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er die Worte darauf nicht verstehen oder sich nicht dafür interessieren, und blickte sie an.
    »Kommen Sie mit«, befahl er ihr und packte sie am Arm.
    »Wohin?« Mika versuchte, sich zu befreien. »Sie brauchen mich nicht festzuhalten. Bitten Sie mich einfach. Wohin soll ich mit Ihnen gehen?«
    Der Mann dachte nicht daran, sie loszulassen: Die Fragen stellen wir.
    Alles geschah sehr schnell. Sie wollte wegrennen, aber er würde sie einholen, ins Haus schlüpfen und ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen, aber er war sehr stark. Sie dachte auch daran, ihn zu fragen, ob sie ihren Freunden Bescheid sagen dürfte. Amparo würde sehr beunruhigt sein, wenn sie nicht käme, aber einen Polizisten in die Wohnung zu lassen war ein Risiko, das man nicht eingehen sollte. Auch wenn sich das alles gewiss als Missverständnis herausstellen und der Spuk gleich vorbei sein würde, spürte sie die Gefahr. Sie war wie gelähmt, stumm, unfähig, zu handeln.
    »Los«, brüllte der Mann sie an.
    Um sich nicht als Abgeführte zu fühlen, ging Mika neben ihm her. An der Straßenecke bogen sie ab, und nach wenigen Metern, in der Calle Lope de Vega, wartete vor dem Kloster ein nagelneuer schwarzer Wagen. Die Hintertür ging auf. Brutal stieß der Mann sie auf die Rückbank.
    Mika ist bereits stundenlang von zwei Polizisten verhört worden, als Ruvin sich in der Tscheka, dem Haus des Geheimdiensts in Atocha, blicken lässt.
    » Bonjour, camarade «, begrüßt er sie und lächelt.
    Im selben Augenblick geht der Auslöser eines Fotoapparats, einmal, zweimal, dreimal. Das Erstaunen, die Angst, die in Mikas Gesicht geschrieben stehen, für immer fotografisch festgehalten. Ruvins Porträt in Mikas erschrockenen Pupillen. Sie sind im Hof, bei Tageslicht.
    »Jan Well!« Ein verwundertes Flüstern, das Ruvin kaum hört.
    Niemand außer ihm hat gehört, wie du ihn in der Tscheka Jan Well genannt hast. Irgendwie hast du gespürt, dass du dich, wenn du ihn bloßstellen würdest, in eine noch schwierigere Lage bringen könntest. Ruvin rechnete damit. Doch deine Klugheit legte er als Komplizenschaft aus.
    Er hat nur sehen wollen, wie sie auf seine Anwesenheit reagiert. Ruvin zieht sich zurück, ohne ihr etwas zu erwidern. Noch ein Foto, und noch eins. Andrei Kozlov selbst hat den Fotografen Oleg Alexandrovich beauftragt. Ein langgehegter Traum.
    In den Archiven in Moskau hat Ruvin die Fotografien bewundert, die man von den in Gefängnissen Inhaftierten gemacht hatte, vor und nach den Verhören, und vor den Erschießungen. Wie geschickt die Fotografen den Hass in den Augen einfangen, die Unruhe, die Verachtung, den Schmerz, sogar dieses irre Lächeln, das die Angst ihnen aufprägt. Wunderbar. Wahre Kunstwerke, die man in keinem Museum ausstellen kann.
    Damals blitzte die Idee in ihm auf. Wie großartig es wäre, die tausend Facetten von Mikas Gesicht auf Fotos einzufangen, wie Ruvin sie damals am Abend gesehen hatte, auf dem Treppenabsatz im fünften Stock des Hauses in der Sophienstraße: die Angst, die ihr in den Schläfen pochte, die in ihren Augen funkelnde Wut … und dieses uneingestandene Begehren. Ihre strahlende Schönheit in den Momenten höchster Spannung.
    Und jetzt ist er hier in der Tscheka und kann sein Glück kaum fassen. Von dem an den Hof angrenzenden Raum beobachtet Ruvin sie durchs Schlüsselloch. Mika, die an der modrigen Wand lehnt, schön, hochmütig. In der Bedrängtheit findet sie zu Größe. Der Fotograf schießt aus nächster Nähe ein Foto nach dem anderen, fängt alle Wandlungen ihrer gepeinigten Schönheit ein. Ruvin lächelt zufrieden.
    Er hat mit dem Fotografen der Pravda die richtige Wahl getroffen, die Arbeit scheint ihm Spaß zu machen. Es war nicht ohne Risiko, ihn mit dieser geheimen Mission in der Tscheka zu beauftragen, aber er hatte sich etwas Passendes zurechtgelegt. Ruvin Andrelevicius, derzeit Andrei Kozlov, ist ein qualifizierter Agent der GPU , und Oleg Alexandrovich ein verlässliches Mitglied der Kommunistischen Partei und daran gewöhnt zu gehorchen. Oleg wird die Sache für sich behalten, und Ruvin hat die Fotos.
    Er erinnert sich an den Abend, als die SS Hippolyte Etchebéhère festnahm und Mika und Jan Well sich in dem Haus in der Sophienstraße versteckten. Unzählige Male hat er sich, versessen auf alle Details, den Fortgang ausgemalt, zu dem es nicht kam: Wie er Mika mit seiner starken Hand aufhält und daran hindert, die Treppe runterzulaufen, wie sie in seine Arme fällt, er seinen Mund auf ihre

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