Die Capitana - Roman
diesem Rhythmus weiterleben. Er studiert zu viel, von acht Uhr morgens bis spät in die Nacht.
»Ich will erst sterben«, scherzt er, »wenn ich Marx bis ins Letzte verstanden habe.«
Mika kriecht es kalt über den Rücken, einverstanden, er soll studieren, aber anschließend inhalieren und ab ins Bett, ihre Liebkosungen sind eine bessere Medizin als die Arzneien aus der Apotheke.
In den zwei Wochen, in denen sie das Haus nicht verlassen können, weil er unentwegt hustet, sagt Mika sich, dass sie sich irgendetwas einfallen lassen muss, damit sein Zustand sich bessert. Fürs erste verbietet sie ihm, rauszugehen, stattdessen liest sie ihm die Bücher vor, und René Lefeuvre und ihre Freunde von Amis du Monde verlegen ihre Gesprächsrunden in die Mansarde. Und Alfred Rosmer kommt wie gewohnt jeden Freitag zu ihnen zum Abendessen, bevor er zu seiner Nachtarbeit als Korrektor geht. Die Gespräche mit den Rosmers sind für sie immer wieder bereichernd.
Schon bald lernten wir Marguerite und Alfred Rosmer kennen, die für uns sehr wichtig wurden. Mehr als nur Freunde waren sie uns leuchtende Vorbilder und Familienersatz in einem. Sie waren etwas älter, hatten in ihrem politischen Leben viel gesehen und mitgemacht und uns in gewisser Weise adoptiert.
In La Grange, ihrem Haus in Périgny, lernten wir eine Gruppe international gesinnter Aktivisten kennen, die bei den bevorstehenden historischen Ereignissen eine nicht unbedeutende Rolle spielen sollten. Viele von ihnen starben wenige Jahre später, sie hatten festgehalten an ihrer Überzeugung, die auch uns leitete: dem Streben nach einer gerechteren Gesellschaft. Das allein war für uns nichts Neues, mit diesem Ziel hatten wir unsere Heimat verlassen, aber erst im Zusammensein mit ihnen begriffen wir, dass wir, so unterschiedlich unsere Herkunft und unsere Lebenswege auch waren, eine einzige Welt teilten und sie nicht ihrem Schicksal überlassen durften. Wir konnten sie ändern. Das glaubten wir wirklich. Inbrünstig.
Mai. Es duftet, die Sonne ist wunderbar, die Luft warm, endlich Frühling nach so langen Monaten Kälte und Krankheit. Sie hat es gar nicht mitbekommen vor lauter Unterricht, Spaziergängen, Büchern, Diskussionen, aber heute Morgen, nach so vielen Monaten in Paris, durchströmt sie zum ersten Mal le bonheur (denn bonheur ist etwas anderes als Glück). Aus mehreren Gründen: Hippo hat ein paar Kilo zugenommen, er hustet fast nicht mehr, sie hat Flauberts L`éducation sentimentale zu Ende gelesen, die Aussicht, im August für wenig Geld ein Haus auf dem Land in Saint Nicholas de la Chapelle zu mieten, und dann le printemps , die aufplatzenden Kastanien vor dem Val-de-Grâce, ihre roten und weißen Blüten, aufrecht und entschlossen. Kaum zu glauben, dass diese großen, bis vor kurzem noch kahlen Bäume auf einmal in voller Blüte stehen.
»Jetzt verstehe ich, warum der Frühling in der europäischen Dichtung einen so übermächtigen Platz einnimmt. Bei uns fällt die Natur nie so vollständig, so tief in den Schlaf wie hier im Winter«, sagt sie zu Hippo auf Französisch und denkt es auch auf Französisch. »Im Frühling findet eine Verwandlung statt, als würde die Welt neu geboren werden.«
Bonheur , das trifft auch auf dieses wattige, warme Gefühl zu, das Mika zwei Monate später auf der Toilette der Sorbonne überkommt, als sie zum soundsovielten Mal feststellen muss, dass da immer noch kein Fleck ist, sie hat ihre Regel nicht bekommen, nein, da ist nichts, doch anstatt in Panik zu verfallen, was soll nur werden, schleicht sich bei ihr, unerhört, dieses Bild von einem Baby ein, ein wunderhübsches Baby, das Kind von Hippo und Mika, eine scheue Empfindung wächst in ihr, wird schwungvoll wie eine Welle, nass, und fällt wieder in sich zusammen, ihr Körper, der warme Sand. Nur schwer kann sie der Vorlesung des Professors folgen. Ein Kind? Nein, ein Kind ist ein Hindernis für den revolutionären Kampf, das haben sie vor Jahren gemeinsam entschieden: Sie würden keine Kinder haben. Aber schön wäre es doch.
Sie wird Hippo nichts erzählen, sie will ihn nicht beunruhigen. Bestimmt ist bis zu ihrem Urlaub nächste Woche alles wieder im Lot. Das hat nichts zu bedeuten, so eine Verspätung kommt vor, redet sie sich gut zu.
Die Sonne des letzten Julitags fällt gleißend zum Fenster herein auf die Unordnung der aufgeklappten Koffer, die Haufen von noch nicht zusammengelegten Sommerkleidern und die aus den Regalen gezogenen Bücher. Als würde ihre
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