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Die Capitana - Roman

Die Capitana - Roman

Titel: Die Capitana - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Unruhe.
    Schon eine Woche. Und noch immer nichts.
    »Noch nie war die Luft so klar wie heute«, sagt Hippo zu ihr.
    »Stimmt, der Himmel war noch nie so rein, so blau. Tiefblau. Unter diesem prallen Blau«, sagt Mika, »ist alles so wahrhaftig, so scharf umrissen, ein Berghang ist ein Berghang, ein Baum ein Baum. Alles an diesem Nachmittag erscheint so wahr, so, wie es ist. Darum …« Mika stockt. »Ich muss dir etwas sagen.«
    Hippo lächelt, streichelt sie: Die Savoyen machen aus seinem sonnengebräunten Mädchen eine Dichterin. Auch er will ihr etwas sagen. Was? Dass es gut ist, sich zu erholen, aber wir müssen nach Deutschland, Mika, wir stehen möglicherweise vor einem historischen Wendepunkt, ist dir das klar? Die am besten organisierte, mächtigste Arbeiterklasse der Welt, und dann diese Nationalsozialisten, von Tag zu Tag werden sie stärker.
    In diesem Augenblick rinnt ihr etwas Warmes und Feuchtes den Schenkel herunter, unter dem Leinenkleidchen, das sie auf dem Flohmarkt gekauft hat.
    »Ich bin gleich wieder da.«
    Besser so, sagt sie sich im Bad und spürt einen Stich, Erleichterung und Traurigkeit zugleich. Ihr Blick verschwimmt, als sie sich wäscht und die Binden sucht.
    »Was ist mit dir, meine Liebste? Du bist ganz blass.«
    Sie wird es Hippo erzählen. Alles. Auch das zärtliche Gefühl, als sie sich dieses Kind vorgestellt hat, und wie sehr ihr zum Heulen zumute ist, so groß die Erleichterung auch ist. Versteht er das? Aber natürlich, zum Glück hat sie es ihm anvertraut, so eine Last soll man nicht allein mit sich herumtragen. Last, aber auch Lust, der Gedanke hat mir Lust gemacht, Hippo. Sie möchte weiter darüber reden, sie weiß zwar, wie er darüber denkt, aber es ist ihr eben wichtig …
    Nein, sie werden an ihren Plänen festhalten, entschlossen wischt Mika sich die Tränen weg. Sie will nicht weiter darüber reden, vielleicht irgendwann, erst muss sie sich ausruhen. Geht es dir nicht gut, meine Liebste? Hast du Schmerzen? Nicht die Regel macht ihr zu schaffen, sondern dieses Kind, das nicht da war, die sich lösende Trauer, das es nie gegeben hat, wie dumm bin ich, aber das sie schon allein dadurch, dass sie es sich eingebildet hat, lieb gewonnen hat, und das es niemals geben wird. Nie.
    Weinen soll sie, alles rauslassen, Hippo nimmt sie in den Arm.
    Dieses Kind, das nicht war, das du dir in jenem Sommer 1932 eingebildet hast, das Kind, das du nie bekommen hast, hast du noch öfter beweint, an anderen, wirklichen Kindern, die im Krieg gestorben sind. Über Jahre bist du in deinen Notizen immer wieder darauf zurückgekommen, hast ganze Seiten gefüllt. Als du dich das erste Mal – das für lange Zeit auch das einzige Mal blieb – zu diesem Krieg zu äußern getraut hast, hast du über den Tod eines Kindes geschrieben. »Das Guerillero-Kind« hast du den Artikel genannt, den du 1945 in der von Victoria Ocampo herausgegebenen Zeitschrift Sur veröffentlicht hast.
    Wieder etwas, das allen, die dich in eine Schublade stecken wollen, Kopfschmerzen bereitet. Wenn du noch links der Linken standest, wie soll man da einen Beitrag von dir in der Zeitschrift Sur erwarten, in der Borges und Bioy Casares veröffentlicht haben? Dort ist Julio Cortázar auf dich gestoßen, auch er hat in Sur veröffentlicht. Und Pepe Bianco. Und Juan José Hernández, der liebe Juanjo, unser gemeinsamer Freund.
    Zwei Monate nach unserem Urlaub in Saint Nicholas de la Chapelle, unserem letzten, fuhren wir im Zug nach Berlin. Noch am Bahnhof überraschte Hippo mich mit einem Satz auf Deutsch, den ich sogar verstand: »Du bist sehr schön.«
    »Der Einfachheit halber reden wir jetzt untereinander wieder Spanisch«, verkündete er mir, »dann haben wir den Kopf frei, um so schnell wie möglich Deutsch zu lernen.«
    Lange hatte ich ihn nicht mehr Spanisch reden gehört, und ich freute mich darüber.
    Hippo und ich wechselten je nach Situation die Sprache. Das Leben, das wir führten, verlangte das, und wir waren darin sehr diszipliniert. Unter uns kämpferischen Internationalisten war das auch nichts Außergewöhnliches. Bei den Treffen in Périgny damals redeten wir in verschiedenen Sprachen, wenn jemand etwas nicht verstand, fand sich immer einer, der den Redebeitrag ins Französische, Deutsche, Englische oder Spanische übersetzte. Wir waren fast alle mehrsprachig, einige von uns, wie Andreu Nin, Kurt Landau, Alfred und Marguerite, sprachen Russisch, denn sie hatten in der UdSSR gelebt. Wir merkten noch nicht einmal,

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