Die Capitana - Roman
Aires, Ardenquin, Julio Cortázar, Leo Trotzki, ihrer brasilianischen Freundin Bluma, Jean-Paul Sartre, Alfonsina Storni, Jorge Amado, Copi. Auf ihren Spaziergängen am Yerres, auf der Terrasse vor Mikas Haus zogen vor Guillermo die Menschen aus ihrem Leben vorüber, erdige Gelände und frische Wiesen, farbig und greifbar in ihren Erzählungen, kleine Geschichten, die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts.
Und dann waren da die Autofahrten von Périgny nach Paris und zurück, denn Guillermo arbeitete dort in einer Druckerei, um seine mageren Einkünfte als Musiker aufzubessern. Mika auf dem Beifahrersitz kommentierte die Nachrichten, die sie in vier Tageszeitungen gelesen oder im Radio gehört hatte. Und dann Mikas Besuche am Wochenende, wenn Guillermo nicht in die Druckerei musste und auf dem Land blieb als alleiniger Herr dieses Bauernhofs aus dem sechzehnten Jahrhundert, den in Périgny alle »château« nannten. Sagenhaft, was Mika ihm alles erzählte, im Zweiten Weltkrieg war sie Korrespondentin von Radio France in Montevideo gewesen, dann die Zeitschrift Argentina Libre , für die sie in Buenos Aires gearbeitet hatte, ihre innige Freundschaft zu Pepe Bianco von der Zeitschrift Sur , ihr Zusammenstoß mit einem Polizisten im Mai ’68, eine köstliche Geschichte. Und während sie sich den Rosen, Lilien und Mohnblumen in ihrem Garten widmete, dem grünen Geviert, aus dem Mika einen Ableger der Parkanlagen von Versailles gemacht hatte, wie nebenbei: Ging Guillermo mit dem Mädchen, das er ihr kürzlich bei Marino vorgestellt hat? Mika fand sie nett, anders als diese andere, die er einmal mit ins château gebracht hatte, sie wollte sich nicht in sein Leben einmischen, aber Hand aufs Herz, was wollte Guillermo mit einer so oberflächlichen Frau, die Männer können noch so hell im Kopf sein, manchmal denken sie einfach nicht, oder zumindest erschließt sich einem nicht, was sie denken.
Ein feines, zartes Gewebe aus Worten, Zuneigung und Vertrauen entspann sich zwischen ihnen. Ein Gewebe, das ihnen Halt gab, wenn sie in ihren Widersprüchlichkeiten und Sorgen verstrickt waren. Ein geschützter, friedlicher Raum, in dem sie nachdenken und voneinander lernen konnten und den sie unter den unterschiedlichsten Umständen zu bewahren wussten.
Über Argentinien hatten Mika und Guillermo bis vor ein paar Wochen kein Wort gewechselt, es nur am Rande gestreift, zu groß war der Schmerz. Für beide. Mika hatte sich vor vielen Jahren entschieden, Argentinien zu verlassen, zum ersten Mal mit Hipólito, zum zweiten Mal allein, nach Ende des Zweiten Weltkriegs, während dem sie in Argentinien gelebt hatte. Trotz der harten Lebensbedingungen im Europa der Nachkriegszeit und entgegen aller Ratschläge ihrer argentinischen Freunde hatte Mika dann doch beschlossen, zurück nach Frankreich zu gehen.
Paris war die Stadt, in der sie mit Hippo glücklich gewesen war. Mika schrieb viele Artikel über das kulturelle Leben in Paris, über Ausstellungen, Bücher, Theater, vereinzelt auch über die Straßen, die Cafés.
Ein verschmitztes Lächeln, dann leise: In Wirklichkeit war Analía Cárdenas die Autorin dieser Artikel, die über Jahre in einer Zeitung in Rio de Janeiro erschienen. Bluma, eine liebe brasilianische Freundin, hatte ihr diese Arbeit verschafft; ihr Lebensgefährte, Sam, war ein bekannter Journalist. Die Arbeit ernährte sie und war auch noch sehr interessant, denn Paris hatte in den Fünfzigerjahren ein glanzvolles Kulturleben. Mika gießt den Mate auf und verfällt in Schweigen, versinkt in irgendeiner Erinnerung, die ihr ein Lächeln entlockt: Obwohl sie sich manchmal überhaupt nicht einig war mit Analía, die viel offener war als sie, was für die Kolumne Voraussetzung war, sie zerriss mir die Blätter, wenn ich mit einem Autor zu hart ins Gericht ging, ihn für irgendeine Haltung als reaktionär oder leichtfertig aburteilte.
Jetzt ist Guillermo doch neugierig geworden: Wer war Analía Cárdenas?
Schallendes Lachen: Ich selbst, aber mit einer anderen Persönlichkeit, Analía Cárdenas war mein Pseudonym. Eine interessante Erfahrung.
Guillermo möchte die Artikel auf der Stelle lesen. Hat sie sie noch? Ja, ein paar, sie wird ihm den über Guillermos Lieblingscafé geben, das Café Le Dôme.
Im Le Dôme traf ich im Jahr 1995 Guillermo Núñez. Vielleicht weil ich dieses Interview nicht wie sonst so oft auf Band aufnahm, hielt ich meine Eindrücke von dieser Begegnung in meinem Notizheft fest.
Seine Augen
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