Die Capitana - Roman
in diesem entscheidenden Moment der Geschichte organisieren. All die Gespräche, Intrigen, Allianzen und Streitereien.
In der Straßenbahn referiert Hipólito noch einmal ganz genau die letzten Entwicklungen in der deutschen Politik. Reichskanzler von Papen hat ein weiteres Mal den Reichstag aufgelöst, er hatte dafür einen Freibrief von Reichspräsident Hindenburg, und in zwei Wochen, am 6. November, sind Reichstagswahlen angesetzt.
Bahnhof Börse. Komm, wir steigen aus, schlägt Hipólito vor, das ist eine Haltestelle vor Alexanderplatz. Gut, gehen wir zu Fuß, stimmt Mika zu. Ein kalter Wind ist aufgekommen, aber es ist ein angenehmer Abend für einen Spaziergang. Lass uns hier lang gehen. Sie umrunden den Hackeschen Markt. Biegen in eine enge Straße ein. Münzstraße, liest Mika laut, hübscher Name.
Hipólito studiert den Stadtplan, der Alexanderplatz ist in diese Richtung, komm.
Die Straßen sind fast leer. Das ganze Viertel schläft, aber die Agitation setzt sich fort in den roten Fahnen, die vor den grauen Häuserfassaden hängen. Die Berliner hängen ihre politische Meinung aus den Fenstern. Wählen Sie Liste 2, 3, 1, rufen sie den Passanten zu. Mika ist angetan von so viel Begeisterung.
Rot sind die Fahnen der drei Parteien, die um die Gunst der deutschen Arbeiterschaft buhlen. Hammer und Sichel auf der der Kommunisten, Liste 3, die drei Pfeile der Eisernen Front, eng liiert mit den Sozialisten, Liste 2. Und diese da?, was keine Frage, sondern Ausdruck von Mikas Bestürzung ist, obwohl sie noch nie eine aus der Nähe gesehen hat, weiß sie genau, dass der weiße Kreis mit dem schwarzen Hakenkreuz in der Mitte die Fahne der Nationalsozialisten ist, der Hitlerbewegung der Liste 1. Ein Schauder durchfährt Mika, sie flüchtet sich in Hipólitos Arme.
»Diese Nazi-Fahnen machen mir Angst.«
»Ja, aber wie viele Kommunisten und Sozialisten gibt es? Viele. Die Kommunisten haben in den letzten zwei Jahren die Zahl ihrer Abgeordneten erhöhen können. Aber es stimmt, auch die Nazis haben einiges an Sitzen hinzugewonnen.«
»So einfach wird es für sie dennoch nicht«, das Bemühen, mit Überzeugtheit die Furcht zu bannen. »Wenn wir die Stimmen der Sozialisten und Kommunisten zusammennehmen, sind sie mit den Nazis in etwa gleich auf.«
»Zusammengenommen haben sie sogar mehr als die Nazis. Aber der Politik der Sozialdemokratischen Partei kann man nicht trauen. Und wenn sich die KPD nicht von der Komintern lossagt …«
Aber Hipólito will nicht schwarzsehen, nicht solange es deutliche Anzeichen dafür gibt, dass alles noch offen ist. An einer Ecke zu einer engen Straße bleiben sie stehen, Hipólito postiert Mika vor sich, schlingt von hinten seine langen Arme um sie.
»Schau dir diese Fahnen an, mein Mädchen, wie viel politische Begeisterung. Das deutsche Volk wird sich nicht ohne Kampf fügen, und wir stehen ihm zur Seite.«
Mika spürt das Feuer hinter Hipólitos Worten, wie er darauf brennt, zu handeln und zu kämpfen, erregt ist, weil sie endlich dort angelangt sind, wo sie seit Jahren hin wollten. Es ist ihr fast körperlich fühlbar, ein süßer Schwindel.
Und bei helllichtem Tag die brodelnde Menschenmenge in den Straßen, Lärm, an allen Ecken politische Diskussionen, Frauen und Männer, jung und alt, arm und reich, machen sich für ihre Positionen stark. Um hier im Scheunenviertel mit am Puls der Zeit zu sein, wollte Hipólito erst Patagonien, dann Paris verlassen: Dort spielt die Musik, Mika. Auch sie glaubt das, das fühlt er an ihrer warmen Hand, die die seine umklammert, ihrem leuch-tenden Blick, mit dem sie aufmerksam die Menschen erforscht, die neben ihnen eine Diskussion führen.
»Der da ist Sozialist«, erklärt Mika ihm, »und der andere Kommunist. Der Sozialist wirft den Führern der deutschen Kommunistischen Partei schwerwiegende Fehler vor, man soll nicht blind gehorchen, ohne nachzudenken, mein Freund«, übersetzt sie ihm ins Ohr. Die Führer der sozialistischen Partei sind auch nicht anders, erwidert darauf der Kommunist.
»Womit beide recht haben«, sagt Hipólito.
Die Stimmen werden lauter, vehementer, der Ton schärfer, aber zu Handgreiflichkeiten kommt es nicht. Gegen die öffentliche Ordnung zu verstoßen wird streng bestraft, wird man ihnen später erklären.
Auf dem Alexanderplatz dann nebeneinander ein Mädchen und ein Junge mit je einer Blechbüchse, in der sie Spenden für ihre Parteien sammeln: die kommunistische und die nationalsozialistische. Er sieht sie
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