Die Capitana - Roman
Zeitweilig waren sie eine ganze Reihe Leute. Nie gab es ein Problem, nie musste jemand irgendeine Erklärung abgeben.
An einer Ecke bleiben sie stehen: Das ist es, in diesem Haus wurden die großen historischen Ereignisse des zwanzigsten Jahrhunderts diskutiert. Hier fanden sich Frauen und Männer der Dritten Internationale zusammen, und hier wurde im September 1938 die Vierte Internationale gegründet. Alfred Rosmer nahm an der Versammlung nicht teil, er stellte nur sein Haus zur Verfügung. Er war seit dem Ersten Weltkrieg Trotzki sehr eng verbunden, und obwohl ihre politischen Standpunkte seit Anfang der Dreißigerjahre klar auseinander drifteten, blieben sie ihr Leben lang enge Freunde. Die Rosmers besuchten Trotzki und seine Frau Natalia in ihrem Exil in der Türkei, und später nahmen sie sich Sievas, Trotzkis in Paris lebendem Enkel, an und brachten ihn nach Mexiko.
»War es nicht Rosmer, der Trotzkis Mörder in sein Haus in Coyoacán geschleust hat?«, fragte Guillermo aufgeregt. »Ich habe das von einem spanischen Journalisten gehört, der in der Sache recherchiert.«
»Nein, so war es nicht, das ist eine Verdrehung der Tatsachen, das habe ich diesem Journalisten schon gesagt, es muss derselbe sein, der mich für das spanische Fernsehen interviewt hat. Natürlich haben die Rosmers in Mexiko die Bekanntschaft Ramón Mercaders gemacht, es stimmt auch, dass Natalia, Trotzkis Frau, ihn nach Hause eingeladen hat, aber sie konnten nicht ahnen, dass dieser Mann ihn ermorden würde, er war, oder zumindest gab er sich als dieser aus, der Verlobte einer engen Mitarbeiterin von LD .«
» LD ?«
»Lew Dawidowitsch Trotzki, Natalia hat ihn immer so genannt. Ich habe mich viel mit ihr unterhalten, als sie nach Paris kam. Der Tod ihres Gefährten lag schon viele Jahre zurück, und dennoch war er ihr so lebendig, als würden sie noch immer ihren gemeinsamen Kampf führen.«
»So wie bei dir und Hippo. Als du mir vor ein paar Tagen von den tragischen Ereignissen erzählt hast, deren Zeugen ihr in Berlin geworden seid, kam es mir vor, als wäre er hier, neben dir, mit seiner ganzen Verzweiflung über die Niederlage des deutschen Proletariats, als wäre Hitler soeben an die Macht gekommen, als hätten wir das Jahr 1933 und nicht 1978. Und dann, wie du mir von euren Spaziergängen, Hand in Hand, durch die Straßen von Paris erzählst, von den Cafés in Montparnasse, der Mansarde, dann bist du jedes Mal wieder dreißig und noch genauso in ihn verliebt wie damals. Wirklich, ich beneide dich.«
Guillermo rührt sie mit seinen Worten fast zu Tränen, dabei ist sie doch angeblich so hart, Mika lacht herzlich, sie freut sich, dass er sie vom ersten Tag an richtig eingeschätzt hat. Wenn er möchte, erzählt sie ihm irgendwann mal, was sie über diese Geschichte in Mexiko weiß, jetzt will sie erst mal noch bei La Grange bleiben.
Dieses Haus, das bis in die Grundmauern und Blumen im Garten antifaschistisch war, wurde im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen besetzt, geplündert, zerstört, die Bücher verbrannt, die Möbel und das Klavier zertrümmert. Die Nazis tobten in La Grange, als wüssten sie, was dort gegen sie in die Wege geleitet worden war, wie sehr seine Bewohner sie hassten. Aber im Jahr 1946 trafen sich die Rosmers und Mika in Frankreich wieder und bauten das geschichtsträchtige Haus neu auf. La Grange bekam wieder Bücher, Vorhänge, Bilder, vielleicht sogar bessere, ihre Schreibmaschine kam hinzu, und Pflanzen, das Haus füllte sich mit Stimmen, Begeisterung, Leidenschaft, denn trotz allem, was geschehen war, glaubten wir weiter an unsere Sache.
»Das musst du noch lernen, Guillermo, mir hat gar nicht gefallen, was du heute gesagt hast, in deinem Alter! Es gibt immer etwas, für das zu kämpfen sich lohnt, einen Weg, den man verfolgen kann, und ein Ziel zu erreichen.«
Darüber reden sie noch. Jetzt will sie ihm von damals erzählen, den Fünfzigerjahren, als sie sich mit André Breton, Benjamin Péret und den Andrades, spanischen Exilanten, trafen. Hat sie ihm von Juan Andrade schon erzählt? Und von María Teresa, seiner Frau? Und von Andreu Nin. Weißt du, was sie mit Andreu Nin gemacht haben? Und mit Kurt Landau? Katja, seiner Frau …
Von dem Indio-Schlächter im Patagonien der Zwanzigerjahre zu ihrer lieben Freundin Simone Kahn und der Galerie, in der sich in den Fünfzigerjahren die Surrealisten trafen, von Katja Landau im Gefängnis in Barcelona zu den Gesinnungsfreunden bei Insurrexit in Buenos
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